: Streß von allen Seiten
■ Kinderärzte warnen vor zu großen Anforderungen an den Nachwuchs
vor zu großen Anforderungen an den Nachwuchs
Hamburger Kinder leben durch Autoverkehr, Enge und Reizüberflutung gefährlicher und ungesünder als Landkinder. Die größte Gefahr für die Kinder in Ballungsräumen seien Verkehrsunfälle, meint der Direktor der Hamburger Universitäts-Kinderklinik, Prof. Franz Josef Schulte. Zudem sind die vielen Reize der Großstadt für Kinder nur schwer zu verarbeiten, das kann zu Aggressionen führen.
Viele Kinder sind aber nicht nur durch Großstadthektik und Straßenverkehr total überfordert, hinzu kommt wachsender Leistungsdruck von Eltern und Schule. Davor warnten die Kinderärzte auf der Jahrestagung für Kinderheilkunde, die gestern in Hamburg zu-
1ende ging. Vor allem Schüler mit kleinen Leistungsschwächen leiden unter der Dauerüberforderung. Als Folge entwickeln solche Kinder gelegentlich eine regelrechte Schulphobie, berichtete Prof. Martin Schmidt auf der Tagung. Angst und Streß führen dann zur totalen Schulverweigerung.
„Wenn es nach dem Willen der Eltern geht, darf kein Kind mehr auf die Hauptschule gehen“, kritisierte Prof. Remo Largo. Durch die Angst vor Arbeitslosigkeit sei der Druck während der Schulzeit gewachsen, die Schulatmosphäre rigide und intolerant geworden, tadelt der Zürcher Neurologe.
Wenn bei ihren Kindern Bewegungsstörungen, Schreib-, Lese-
1oder Sprachschwächen auftreten, gehen viele Eltern mit dem Anspruch zum Kinderarzt, der „Fehler“ müsse wegtherapiert werden. Einige dieser sogenannten Teilleistungsstörungen können heute zwar oft erfolgreich behandelt werden. Eine unkritische Therapie könne einem Kind aber schaden. Sinnvoller sei, ein Kind trotz und mit der Störung in Familie und Gesellschaft zu integrieren, sagte Largo. Dies sei allerdings in der heutigen Schulatmosphäre, wo Minderbegabte schnell eine schlechte Note bekämen, problematisch, räumte der Kinderneurologe ein.
Für die Kinderärzte ist oft schwer festzustellen, ob motorische Probleme oder eine Leseschwäche einfach Veranlagung sind oder durch einen psychischen, nervlichen, oder Gehirnschaden verursacht wurden. „Wenn Sie mich mit Boris Becker vergleichen, bin ich motorisch behindert“, betonte Schulte auf dem Kongreß. Eltern dürften ihre Kinder nicht immer und in allen Bereichen zu Superleistungen zwingen. Schließlich kann man auch mit unterdurchschnittlichen Leistungen sehr glücklich sein. Das ist scheinbar in Vergessenheit geraten. Vera Stadie
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen