Streit um staatlich finanzierte Schulspeisung: Hungrig im Klassenzimmer
Vielen Eltern fehlt das Geld, um ihren Kindern Schulessen zu bezahlen. Schulen behelfen sich mit Spenden - während die Politik streitet, wer Kosten für Mensa-Essen übernehmen sollte.
BERLIN taz Während sich die Mitschüler den Magen mit Gemüseschnitzel und Kartoffeln vollschlagen, gibt es für Ralf heute nur ein trockenes Toastsandwich von zu Hause. "Würdest Du gerne mitessen?", wird Ralf gefragt. Er würde gerne, darf aber nicht. "Weil meine Eltern auch kaum Geld haben", sagt Ralf. "Die brauchen das."
Es ist ein drastischer Fall, den der MDR hier aufgezeichnet hat. Drei Euro würde die Verpflegung an der Förderschule in Erfurt kosten. Doch selbst drei Euro pro Tag kann Ralfs Vater, ein arbeitsloser Hausmeister, nicht aufbringen. Er ist nicht der einzige an der Schule. 6.000 Euro Essensschulden haben sich bei den Eltern aufgehäuft. "Viele können es sich nicht leisten, manche wollen vielleicht auch einfach nicht bezahlen", sagt Schulleiter Claus-Peter Lochner. Doch so hohe Ausstände könne die Schule nicht tolerieren. "Einige Kinder können dann nicht mehr mitessen."
Die Zwei-Klassengesellschaft am Mittagstisch zeigt sich an zahlreichen deutschen Schulen. Wie viele SchülerInnen hungern müssen, weiß niemand genau. Franz Müntefering (SPD) sprach vergangenen Sommer, als er noch Vizekanzler war, auf Schloss Meseberg von hunderttausenden Kindern - und plädierte für eine staatlich finanzierte Schulspeisung. Getan hat die Regierung seitdem nichts. Das Essen an den inzwischen rund 6.500 Ganztagsschulen kostet je nach Bundesland zwischen 1,30 Euro und mehr als vier Euro. Das ist nach Ansicht der Sozialverbände insbesondere für Hartz-IV-Kinder oft zu viel. Kinder unter 14 Jahren haben am Tag gerade einmal 2,72 Euro für Essen zur Verfügung.
Ein Problem, das selbst im scheinbar reichen Süddeutschland zu beobachten ist. Sabine Graf ist Schulleiterin einer Brennpunktschule im Stuttgarter Stadtteil Bad-Cannstatt. Auch an ihrer Ganztagsgrundschule haben einige Eltern ihre Kinder nicht zum Mittagessen angemeldet. 2,70 Euro würde das kosten. Viele haben noch nicht mal ein Pausenbrot dabei. "Zwanzig Kinder haben ständig nicht genug zu essen", sagt Graf. Sie beobachtet immer wieder Kinder, die mit großen Augen um den Mittagstisch herumschleichen und ihre MitschülerInnen um einen Happen anbetteln. Inzwischen hat die Schule im Lehrerzimmer aus Spenden einen Essenskorb mit Bananen und Zwieback eingerichtet. Knurrt der Magen der Kids, können die LehrerInnen ihnen zumindest einen Happen holen.
An vielen Orten müssen inzwischen die Ehrenamtlichen der Tafeln einspringen: Osnabrück, Gelsenkirchen, Schwerin, Marburg - in all diesen Städten können sich hungernde Kinder in der Mittagspause bei den Tafeln ein Essen abholen oder bekommen ein Proviant-Rucksäckchen mit in die Schule. "Es ist im Grunde skandalös, dass die Tafeln an Schulen und Kitas in die Bresche springen, damit Kinder aus sozial benachteiligten Familien über den Tag kommen", sagt Gerd Häuser vom Bundesverband Deutsche Tafeln.
In Berlin ist die "Arche" einer der Orte, an dem arme Kinder ein kostenloses Mitagessen erhalten können. Heute gibt es hier Gulaschsuppe und Hefeklöße mit Blaubeersauce. Der elfjährige Marcel* hat seinen Teller hastig leergegessen. Eigentlich könnte er auch in seiner Schule gleich um die Ecke ein Mitagessen bekommen. Doch seine alleinerziehende Mutter kann sich das offenbar nicht leisten. "Das kostet Geld", sagt Marcel. Und schiebt, weil es ihm wohl peinlich ist, hinterher. "Außerdem hat meine Mutter vergessen, den Zettel fürs Schulessen abzugeben." Die Zweiklassen-Gesellschaft am Mittagstisch ist immer mehr Politikern ein Dorn im Auge. Mehrere Länder haben deshalb Sozialfonds eingerichtet, um auch sozial Schwächeren ein gemeinsames Mittagessen zu ermöglichen, darunter das Saarland, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Doch eigentlich finden die Ministerpräsidenten, dass die Bundesregierung hier in der Pflicht ist. Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) hat deshalb eine Bundesratsinitiative angestoßen, die den Bund dazu bewegen soll, das Geld für das Schulessen zu übernehmen. Unterstützung bekommt er auch aus SPD-regierten Ländern wie Rheinland-Pfalz und Berlin. Bildungsminsterin Annette Schavan (CDU) hat die Übernahme der Mensa-Kosten bisher aber strikt zurückgewiesen. Seit der Föderalismusreform sei Schule Ländersache.
In der Zwischenzeit müssen vielerorts die Kommunen in die Bresche springen. Stuttgart wird ab Herbst ein Ein-Euro-Mittagessen an den Ganztagsschulen garantieren, was Schulen wie die Brennpunktschule in Bad-Cannstatt entlasten würde. In der Erfurter Förderschule haben inzwischen Privatpersonen Essenspatenschaften übernommen. Damit auch Ralf wieder eine warme Mahlzeit bekommt. Und nicht nur Toastbrot. Schulleiter Lochner ist froh darüber, findet aber gleichzeitig: "Der Staat müsste eigentlich die Kosten übernehmen. Das Essen gehört einfach zum Schulalltag."
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