Streit um Turbo-Abi an Vorzeigeschule: Schule kämpft um ihr Konzept
Göttinger Gesamtschule fürchtet wegen des Abis nach 12 Jahren um ihr preisgekröntes Unterrichtsmodell. Vor rund zwei Wochen hatte Bundespräsident Christian Wulff (CDU) die IGS als beste Schule Deutschlands ausgezeichnet.
HANNOVER taz | Für neuen Zündstoff in der Schuldebatte in Niedersachsen sorgt die preisgekrönte Integrierte Gesamtschule (IGS) in Göttingen. Die Schule sieht ihr pädagogisches Konzept ab dem kommenden Schuljahr gefährdet: Dann will die schwarz-gelbe Landesregierung das Turboabi nach zwölf Jahren an Niedersachsens Gesamtschulen einführen. Der Landtag in Hannover beschäftigt sich am Mittwoch auf Antrag der Grünen-Fraktion mit der Zukunft der Schule.
Erst vor rund zwei Wochen hatte Bundespräsident Christian Wulff (CDU) die IGS als beste Schule Deutschlands ausgezeichnet. Nach Leistung werden die Schüler dort nicht getrennt: Sie lernen bis zur zehnten Klasse gemeinsam und arbeiten in Kleingruppen. Ein Konzept, das offenkundig aufgeht: Bis zu 75 Prozent der Schüler eines Jahrgangs machen an der IGS Abitur. Bundesweit schafft das gerade mal ein Drittel der Schüler. Eine Empfehlung fürs Gymnasium hatten nur 89 der 114 Abiturienten des IGS-Jahrgangs 2010 in der Grundschule erhalten.
Eben dieses preisgekrönte Konzept sieht die Schule nun vor dem Ende. "Wenn ein ganzes Schuljahr fehlt, kann man das nicht mehr durchhalten", sagt der stellvertretende Schulleiter Rolf Ralle. Die Schüler müssten früher getrennt und nach Leistung selektiert werden. Ralle hofft auf eine Sondergenehmigung von Kultusminister Bernd Althusmann (CDU) - und zwar schnell, denn die Zeit bis zum Beginn des neuen Schuljahres ist knapp.
Schulfrieden in Niedersachsen sollte das neue Schulgesetz bringen, das CDU und FDP im März verabschiedet hatten - vergeblich:
Ob Turboabi oder nicht, sollen die Gesamtschulen selbst entscheiden, hat jüngst der Landeselternrat gefordert.
Zu hohe Hürden für Gesamtschul-Gründungen bemängeln die Eltern zudem: Sie müssen für eine Gründung fünfzügig sein. Bei der neuen Oberschule - zu der Haupt- und Realschulen ab dem Sommer gebündelt werden - reicht hingegen eine Klasse pro Jahrgang.
Das Volksbegehren für gute Schulen sammelt weiter Unterschriften für 13 Jahre Regelschulzeit und leichtere Gesamtschul-Gründungen.
Erteilen will Althusmann die allerdings nicht. Die IGS in Göttingen könnte zum Präzedenzfall werden, so seine Sorge. Es sei kaum zu begründen, warum ausgerechnet eine Schule, die als derart "leistungsstark" gilt und mit 60 Prozent Gymnasialschülern arbeitet, zur Ausnahme werden soll, heißt es aus dem Ministerium.
Dort hält man die Befürchtungen der Schule für überzogen. Das Abi nach 13 Jahren sei auch in Göttingen künftig nicht ausgeschlossen: Schüler, die erst nach Klasse zehn eine Gymnasial-Berechtigung erhalten, könnten drei Jahre lang die Oberstufe besuchen und dann Abi machen.
Anders sieht man das in Göttingen selbst. Dort will der Stadtrat kommenden Montag in einer Sondersitzung eine Resolution für den Erhalt des Abis in 13 Jahren an der IGS verabschieden. Auch in Hannover fordern SPD, Grüne und Linksfraktion eine Ausnahme für die Schule. "Absurd" sei es, das pädagogische Konzept der IGS wenige Wochen nach seiner Auszeichnung "im Kern zu zerstören", sagt der Grünen-Fraktionschef Stefan Wenzel. Die SPD spricht von einem "Schlag ins Gesicht". Die Linksfraktion will eine Sondergenehmigung für die IGS am Donnerstag mit einem Entschließungsantrag durchsetzen.
Der stellvertretende Schulleiter Ralle findet es "unfair", dass Althusmanns Haus mit dem hohen Anteil an Schülern mit Gymnasial-Empfehlung argumentiert. "Es werden einzelne Punkte aus dem Gesamtkonzept rausgegriffen", sagt er. Und das sehe vor, "alle Kinder mitzunehmen".
Ein Ansatz, den selbst der CDU-Bildungspolitiker Karl-Heinz Klare "wunderbar" findet. Die Haltung des zuständigen CDU-Ministers teilt er nicht: "Vom Grundsatz her ist es gerade im Schulbereich immer positiv, von Ausnahmen Gebrauch zu machen", sagt Klare.
Einzig auf den Koalitionspartner FDP ist für Althusmann in der Gesamtschul-Frage Verlass: Die IGS mache zwar "gute Arbeit", sagt deren Bildungspolitiker Björn Försterling, eine sofortige Ausnahmegenehmigung lehne er dennoch ab. Zunächst sei zu prüfen, ob das Konzept nicht auch ohne Präzedenz-Genehmigung fortgeführt werden könne. Der Landtag, findet er, sei dafür nicht der richtige Ort: "Da verschanzen sich alle in ideologischen Gräben."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren