Streit um Genderstudies: Biologistische Grenzziehungen
Die Unterstellungen sind bekannt: Genderstudies sind unwissenschaftlich. Das „Zeit-Magazin“ versucht diese Debatte neu zu entfachen – eine Replik.
Wir haben wieder eine „Gender-Debatte“. Die Wochenzeitung Die Zeit meint derzeit mit der Diskreditierung der Genderstudies als „Glaube“, gar „Antiwissenschaft“ Auflage machen zu können.
In den Weiten der Social Media empören sich aufgebrachte Menschen auf meist wenig zivilisierte Weise über die angebliche Gehirnwäsche durch Gender, die vermeintliche Verschwendung aberwitziger Summen öffentlicher (Steuer-!)Gelder für Gender, über die angebliche Profilierungssüchtigkeit der „Genderfrauen“ – so der Kolumnist Harald Martenstein, ansonsten bekannt für sein Engagement zur Rettung der Berliner Gaslaternen, im Zeit-Magazin – und über den Untergang von Bildung, Kultur und Abendland durch Gender.
Was aber ist das, dieses ominöse Gender? Die Genderstudies liefern auf diese Frage nicht keine, aber keine eindeutige Antwort. Gender meint zunächst eine Grenzziehung, die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen. Diese Grenzziehung halten wir im Alltag und seit der modernen Verwissenschaftlichung der Welt für biologisch gegeben.
Dieser Annahme folgen durchaus Teile der Genderstudies, etwa wenn sie beforschen, welche Männer und welche Frauen mit welchen Optionen arbeiten, wie sie ihre Freizeit verbringen, welchen – geschlechtsspezifischen – Krankheitsrisiken sie jeweils wie begegnen oder wie sie in den Medien dargestellt und wie sie sozialisiert werden. Und sie tun dies durchaus auch mithilfe naturwissenschaftlicher Methoden.
Nun ist, aller Meinung zum Trotz, Wissenschaftlichkeit allerdings mehr als naturwissenschaftliche Methode. Die forschende Auseinandersetzung mit allen Bereichen der Welt – Menschen inklusive – bringt es mit sich, dass man sich dabei mit von Menschen (mindestens mit-)erzeugten Phänomenen auseinandersetzen muss. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gender gilt dies im besonderen Maße.
Paula-Irene Villa
Jahrgang 68, ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der LMU München. Ihre Schwerpunkte sind Diskurstheorie und Körpersoziologie. Als Standardwerk gilt „Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper“ 4. Auflage, 2011.
Sabine Hark
Jahrgang 63, ist Professorin der Soziologie und Leiterin des Zentrums für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Technischen Universität Berlin.
Sie gilt als Mitbegründerin der Queer Theory in Deutschland. Ihr bekanntestes Buch: „Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus“ (2005).
Zugleich ist kaum eine Leitdifferenz der Gegenwart derart eng geknüpft an ein biologisches, genauer: biologistisches Verständnis. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts halten wir das Geschlecht für eine unverrückbare, universale und unhintergehbare Naturtatsache, die an einem bestimmten physikalischen Ort der menschlichen Körper angesiedelt sei. Selbst wenn dies stimmte, so ist es doch höchst interessant und erkenntnisreich, sich mit der Geschichte dieser Tatsache zu befassen.
Genau das tun einige in den Genderstudies. Anders als davon auszugehen, dass es Männer und Frauen (qua Genetik, Gebärmutter, Anatomie oder Hirnwindung) an und für sich „gibt“, erforschen sie die historisch konstituierte, kulturell geregelte und subjektiv interpretierte Bedeutung des Geschlechtsunterschieds.
Historische Arbeiten im Feld der Genderstudies stellen etwa fest, dass diese Universaltatsache der biologischen Geschlechterdifferenz sich je nach geschichtlicher Konstellation recht unterschiedlich ausnimmt. „Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks“, schrieb der preußische Mediziner Rudolf Virchow 1848.
Und die holländische Gesundheits- und Hormonforscherin Nelly Oudshoorn zeichnete nach, wie sich die Idee der „Geschlechtshormone“ allmählich im Kontext alltagsweltlicher Deutungen verselbständigte – und zwar entgegen vielfachen klinischen Evidenzen.
Ein Verdienst der Genderstudies
Dass wir von vielen kruden Vorstellungen zur Geschlechterdifferenz heute weit entfernt sind, ist nicht zuletzt ein Verdienst der Genderstudies. Denn diese haben Argumentationen, die Biologie als Schicksal setzen, und die lange auch das (natur- wie sozial- und kultur-)wissenschaftliche Wissen beherrschten, hinterfragt und herausgefordert.
Was gerade durch wissenschaftshistorische Arbeiten in diesem Feld klar wurde, ist, dass die Grenzziehung zwischen Natur und Kultur mitnichten so offen zutage liegt. Diese erkenntnistheoretisch völlig triviale Einsicht stellt allerdings für viele Journalisten und Kommentatorinnen außerhalb der Wissenschaft offenbar eine schwer zu schluckende Kröte dar.
Es ist indes eine Einsicht, die NaturwissenschaftlerInnen und GeschlechterforscherInnen teilen. Jedenfalls ist es von der Position etwa des Cambridger Neurowissenschaftlers Simon Baron Cohen, der die alte Natur-versus- Kultur-Debatte in Bezug auf Geschlecht als geradezu absurd simplistisch bezeichnet und dafür plädiert, die Interaktion zwischen beidem in den Blick zu nehmen, nicht weit bis zum Plädoyer der in Berkeley lehrenden Philosophin Judith Butler, die Geschlechterdifferenz als jenen Ort zu verstehen, an dem die Frage nach dem Verhältnis des Biologischen zum Kulturellen gestellt werden müsse.
Denn die psychischen, somatischen und sozialen Dimensionen der Geschlechterdifferenz ließen sich niemals gänzlich ineinander überführen, sie seien aber ebenso wenig als voneinander geschieden zu verstehen.
Ohne Antwort
Das Programm, das die Genderstudies daher nüchtern wie vorurteilsfrei verfolgen, besteht folglich genau darin, am Ort der Geschlechterdifferenz die Frage nach dem Verhältnis des Biologischen zum Kulturellen zu stellen. Und zwar sie immer wieder zu stellen, da sie, wie Butler sagt, zwar gestellt werden muss, aber, streng genommen, nie beantwortet werden kann.
Nimmt man also ernst, dass simplistische Natur/Kultur-Debatten in einem falschen Binarismus verfangen sind, so folgt daraus durchaus, dass es Materialitäten (etwa Strukturen des Gehirns, Anatomie, Hormone) geben kann, die bei Männern und Frauen häufiger oder seltener vorkommen.
Es folgt daraus allerdings ebenso logisch, dass diese Materialitäten mit sozialen Umständen und Erfahrungen interagieren: So sind Hormone auch von UV-Licht oder der Diät abhängig, sie reagieren auf Angst oder Lust, sie treten je nach Alter einer Person unterschiedlich auf. Und umgekehrt: Hormone beeinflussen Angst und Lust, sie machen Hunger oder müde. Doch Hormone machen ebenso wenig wie bestimmte Hirnstrukturen oder Chromosomensätze Frauen und Männer.
Zellen erkennen Testosteron nicht
Was es also bedeutet, individuell und gesellschaftlich eine „Frau“ oder ein „Mann“ zu sein, das wird nicht durch eine biologische Essenz festgelegt. Die Berliner Genetikerin Heidemarie Neitzel beschreibt, dass die Untersuchung des Hormonspiegels nicht unbedingt Eindeutiges ergibt. Es gebe Beispiele, wo Androgene wie Testosteron in männlicher Dosierung vorhanden seien, aber von den Zellen nicht erkannt würden.
Solche Befunde aber belegen nichts anderes, als dass die „Wahrheit des Geschlechts“ seit jeher keine nackte, sondern eine höchst bekleidete Wahrheit ist. Es sind solche Erkenntnisse – Erkenntnisse, die den Alltagsverstand, der zwei und nur zwei eindeutige Geschlechter kennt, erschüttern –, von denen Martenstein und Konsorten nichts wissen wollen. Wie gesagt, wir reden hier von wissenschaftlichen Selbstverständlichkeiten, die spätestens seit Kants Kritik der reinen Vernunft zum Grundwissen moderner Wissenschaften gehören.
Bleibt zu fragen, warum es dagegen derzeit erneut eine medial geschürte Abwehr gibt? Es ist erst rund hundert Jahre her, dass deutsche Wissenschaftler wie Rudolf Virchow sich mit dem Rekurs auf die Natur gegen das Recht von Frauen, zu studieren, stellten.
Statusangst der Professorenschaft
Virchow, Max Planck und Kollegen fürchteten einen möglicherweise sogar irreversiblen Eingriff in die Naturgesetze, sollten Frauen als Gleiche in die Akademie einziehen. Es sei dahingestellt, inwieweit sie dies für eine wissenschaftlich fundierte Aussage hielten oder ob sie sich nur taktisch des wirkmächtigen Diskurses einer naturalisierten Geschlechterdifferenz bedienten, um sowohl eine gesellschaftlich prestigereiche Position zu verteidigen als auch die in der deutschen Professorenschaft damals weit verbreitete Statusangst, die sich als Angst vor der Feminisierung ihres Berufes äußerte, zu bekämpfen. To allow women to be like men would be to risk men becoming like women – so hat die US-amerikanische Historikerin Joan Scott dies für einen anderen Kontext bilanziert.
Spricht aus der Diskreditierung der Genderstudies, inklusive der „Genderfrauen“, nichts als die Angst vor Uneindeutigkeit? Die Kultur, das „Volk“, das Abendland, die Wissenschaft, ja selbst die Natur sind bislang nicht untergegangen an der wachsenden Einsicht darin, dass Gender wesentlich mehr und anderes ist als Eierstöcke oder Hoden. Daran wird sich auch zukünftig wenig ändern, selbst wenn die Genderstudies derart wichtig und einflussreich würden, wie ihnen unterstellt wird.
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