Streik im Güterverkehr: Abhängen am Ablaufberg
Auf dem größten Rangierbahnhof Europas in Maschen bei Hamburg ist selbst für Fachleute nur schwer zu erkennen, dass gerade gestreikt wird.
MASCHEN taz Gut, dass es Kantinen gibt. Wäre dem nicht so, stünden Frank-Rüdiger Schultz und seine Kollegen, in Müllsäcke eingepackt, draußen im Sturmtief "Tilo", das Europas größten Rangierbahnhof in Maschen südlich von Hamburg mit Regenschauern peitscht. Schultz sitzt der zuständigen Ortsgruppe Maschen der Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) vor. Statt in der Lokleitung den Einsatz der Triebfahrzeuge zu koordinieren, registriert er nun schon den zweiten Tag Kollegen, die sich am Streik im Tarifkonflikt der GDL mit der Deutschen Bahn (DB) beteiligen. Der Screensaver seines Laptops zeigt die roten Triebwagen der DB-Güterverkehrstochter Railion.
Das Verständnis für den Streik der Lokführer wächst. Laut einer Umfrage des "ZDF-Politbarometers" halten derzeit 57 Prozent der Bevölkerung die Streiks für gerechtfertigt, das sind 12 Prozentpunkte mehr als im Oktober. 39 Prozent lehnen den Streik dagegen ab. Die Verantwortung für den Streik sehen die Befragten auf beiden Seiten: 44 Prozent sind der Meinung, dass die Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) und die Bahn gleichermaßen verantwortlich sind. 34 Prozent geben der Bahn die Hauptschuld daran, dass es noch nicht zu einer Einigung im Tarifstreit gekommen ist, nur
17 Prozent der GDL.
In den ersten Stunden des zweiten Streiktages haben sich 18 Mann in den Ausstand begeben. Jörg R. zum Beispiel hätte um 6.35 Uhr in seine Lokomotive steigen müssen, um vom Hamburger Hafen einen Güterzug abzuholen. In Maschen hätte er ihn abgehängt, um mit einem anderen, hier zusammengestellten Zug nach Lübeck zu fahren. Beide Züge blieben stehen, der eine in Hamburg, der andere in Maschen. Ob er zufrieden ist mit dem Streikverlauf? "Zufrieden sind wir, wenn wir einen Tarifvertrag kriegen", sagt Jörg R.
Auf dem großen Güterbahnhof Maschen ist selbst für Fachleute nicht leicht zu erkennen, dass gestreikt wird. 7.000 Meter lang, 700 Meter breit mit 112 parallelen Gleisen, in denen Züge gebildet werden können, ist er ein wenig unübersichtlich. Durchschnittlich knapp 130 Züge verlassen den Rangierbahnhof täglich - alle 11 Minuten ein Zug.
Der 1977 eröffnete Bahnhof ist eine reine "Zugbildungsanlage", wie die Eisenbahner neuerdings sagen. Es gibt nur Eisenbahnverkehr, kein Lkw kommt an die Gleise. "Der Bahnhof ist hier gebaut worden, weil es hier nichts gab", sagt ein Eisenbahner - nur Torfmoor. In Maschen werden die Fernzüge zwischen Nord- und Südeuropa sowie zwischen dem Kontinent und den Seehäfen umsortiert. Im Bahnhof übernehmen Rangierloks die Züge und schieben sie einen fünf Meter hohen "Ablaufberg" hinauf, von dort rollen die Wagen einzeln oder in Gruppen, gezogen von der Schwerkraft, in Abstellgleise.
Während moderne Signaltechnik das Woher und Wohin steuert, gibt es hierbei noch Arbeitsabläufe, die ablaufen wie zu Dampflokzeiten. Oben auf dem Berg muss ein Arbeiter von Hand eine Schraubkupplung lösen und die Druckluftschläuche des Bremssystems trennen.
250 Leute arbeiten auf dem Rangierbahnhof: Wagenmeister, die prüfen müssen, ob die Züge technisch in Ordnung sind und sorgfältig beladen wurden; Rangierer, die die Loks auf dem Bahnhof fahren; die Rangierarbeiter und Disponenten, die über das Personal und Material verfügen.
In der Kantine sitzen die streikenden Lokführer unter sich. Sie langweilen sich ein bisschen, trinken Kaffee und sprechen sich Mut zu. "Mir hat man heute erzählt, dass auf 70 Kilometern jeder Bahnhof zu ist", sagt einer.
Der Zug, den Jörg R. in der Frühe nicht abgeholt hat, gehört zu den "25 bis 30 Prozent", die sich bei der Hamburger Hafenbahn verspäteten oder ausfielen. "Hier ist keine Überfüllung, weil nichts reinkommt", sagte Christiane Kuhrt von der Hamburger Hafenbehörde. Zwei Drittel der Problemfälle betreffen einlaufende Züge, die Güter verpassen ihre Schiffe. Sollten weniger Schiffe den Hafen angelaufen haben, dann nur aufgrund des schlechten Wetters, versicherte Kuhrt.
Der Hamburger Hafen ist der zweitgrößte Containerhafen Europas nach Rotterdam und die Nummer 8 weltweit. Hier wird ein Großteil der Fracht zwischen den Boomregionen Fernost und Baltikum umgeschlagen. Die Befürchtung der Hafenbetreiber, dass die Anlagen wegen des Streiks an der Fracht ersticken könnten, scheint nicht Wirklichkeit geworden zu sein. "Unser Ziel ist, die Gleise frei zu halten für die Züge, die fahren", hatte Kuhrt vor Streikbeginn gesagt.
Wer am Freitag durch den Hafen fuhr, stellte keine augenfällige Veränderung fest. Nicht mehr Containerbrücken als sonst recken ihre Arme untätig in den Himmel. Nach wie vor wurden die großen Schiffe kaum sichtbar entladen: Pro Kranfahrt wird ein großer Container bewegt, ihn zu transportieren bedarf es auf der Straße einen Sattelschlepper. Auf einem Schiff mit 7.000 Standardcontainern wirkt er winzig.
Die Transportkette Schiff-Containerterminal-Eisenbahn oder Lkw ist durchaus nicht unempfindlich für Ausfällen. "Der Lkw-Bereich ist zu 99 Prozent ausgelastet", schätzt der Spediteur Hans Stapelfeldt, der im Vorstand der Logistikinitiative Hamburg ist. Der Hamburger Hafen mit seinen zweistelligen Zuwachsraten im Containerverkehr tut sich schwer, die Kisten abzutransportieren. Man hat deshalb in den vergangenen Jahren so viel Verkehr wie möglich auf die Schiene verlagert. 30 Prozent sollen es sein - laut der Hafenbehörde ein Spitzenwert im Vergleich zu anderen Häfen.
Stapelfeldt schätzt: Die Terminals, auf denen die Container angenommen und zwischengelagert werden, seien im Schnitt zu 85 Prozent ausgelastet. Die verbleibenden Prozente bildeten einen Puffer, der binnen weniger Tage aufgebraucht sein könnte. Sollten die Terminals, etwa wegen des Streiks, mit Containern volllaufen, werde der Betrieb langsamer. "Dann fehlt die Luft, um zu arbeiten", sagt Stapelfeldt.
Die seit kurzem börsennotierte Hamburger Hafen- und Logistik AG (HHLA), das größte Umschlagsunternehmen im Hafen, gibt sich trotz des Streiks entspannt. "Die Schiffe kommen anhand einer Segelliste", sagte Unternehmenssprecherin Ina Spieß. Verspätungen wegen schlechten Wetters oder verstopfter Schifffahrtsstraßen seien üblich. "Darauf sind wir in unserem täglichen Geschäft eingerichtet", versicherte Spieß.
Außerdem: Weil sich der Streik abzeichnete, hatten die Spediteure, Reeder und Terminalbetreiber Gelegenheit, vorzusorgen. "Man hat im Vorfeld schon versucht, Ladung zu steuern", sagt Norman Zurke vom Unternehmensverband Hafen Hamburg. Kritische Güter wie Kühlcontainer seien früher auf den Weg gebracht worden, andere wurden verzögert. Denn für einen Reeder kann es sich lohnen, die Fahrt zu drosseln und so Geld zu sparen. Spediteure disponierten zudem auf Privatbahnen und Laster um. Maximal 2 bis 3 Prozent des Verkehrs der Bahn könnten die Laster übernehmen, schätzt Stapelfeldt.
"Die werden froh und dankbar sein, in die Lücke springen", vermutet Zurke vom Unternehmensverband. Ihm sei unverständlich, dass man unbeteiligten Dritten, vor allem den Betrieben im Hafen, "dermaßen schaden will", schimpft er auf die streikenden Lokführer.
Die sehen sich dagegen in ihrer Arbeit nicht wertgeschätzt. Sie allein seien gezwungen, rund um die Uhr in ständig wechselnden Schichten zu arbeiten, sagen sie in der Betriebskantine in Maschen. Dieser Situation müsse die Deutsche Bahn mit einem eigenen Tarifvertrag Rechnung tragen.
Wie so eine Wechselschicht aussieht, lässt sich am Kantinentisch gut beobachten. Gewerkschaftsvorstand Schultz erfasst in seinem Laptop minutengenau, wann die einzelnen Kollegen ihren Dienst nicht angetreten haben. Auch wenn sie streiken - pünktlich am Arbeitsplatz erscheinen müssen sie doch.
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