Streetworker in Berlin: "Ich bin erstaunt, wie friedlich die Jugendlichen sind"

Am Freitag feiert Gangway Jubiläum. Seit 20 Jahren kümmern sich die Streetworker des Vereins um Jugendliche. Heute gebe es zwar keine Gangs mehr, sagt Geschäftsführerin Elvira Berndt. Die Probleme seien aber umfassender als früher

Zum 20. hat Gangway ein Buch mit Reportagen und Interviews veröffentlicht Bild: dpa

taz: Frau Berndt, seit 20 Jahren macht Gangway Straßensozialarbeit. Wie hat sich das Leben der Jugendlichen, die Sie betreuen, in dieser Zeit verändert?

Elvira Berndt: Der sichtbarste Unterschied ist, dass wir keine großen Gangs mehr haben, sondern kleinere Cliquen. Es hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine starke Individualisierung stattgefunden.

Wie wirkt sich das aus?

Aus Sicht der Umwelt zunächst positiv. Kleinere Gruppen erscheinen weniger bedrohlich. Man hat nicht mehr das Gefühl, dass man die Straßenseite wechseln muss. Die jungen Menschen ecken nicht mehr so stark an wie früher. Ihre Probleme sind deshalb aber nicht kleiner. Im Gegenteil, sie umfassen oft mehr Lebensbereiche. Wenn Jugendliche heute richtige Sorgen haben, dann haben sie davon gleich einen Sack voll. Einfache Lösungen gibt es meistens nicht.

Was genau tun Sie, um den Jugendlichen zu helfen?

Der Verein für Straßensozialarbeit hat insgesamt 65 Mitarbeiter. 15 Streetworker-Teams arbeiten in den einzelnen Bezirken. Drei Teams kümmern sich zudem um die berufliche Beratung und Vermittlung sowie um das Thema Sucht und Drogen. Rund 3.000 Jugendliche betreut Gangway pro Jahr. Ein Drittel davon sind jeweils neue Kontaktaufnahmen. Manche Jugendliche begleiten die Sozialarbeiter mehrere Monate, andere über Jahre. Finanziert wird Gangway vom Senat und den Bezirken sowie durch Spendengelder.

Pünktlich zum Jubiläum hat der Verein ein Buch herausgebracht: "Down Town Berlin - Geschichten aus der Unterstadt" vereinigt Berichte und Interviews aus 20 Jahren Sozialarbeit. Sowohl die Streetworker als auch Jugendliche erzählen teils lustige, teils traurige, teils rührende Begebenheiten. 352 Seiten, 12,80 Euro. ALL

Wir haben Teams in allen Bezirken. Unsere Streetworker sprechen die Jugendlichen auf der Straße, in Parks oder auf Spielplätzen an und versuchen, nach und nach eine vertrauensvolle Beziehung zu ihnen aufzubauen. Wir bieten den jungen Menschen unsere Hilfe an. Wir begleiten sie auf Ämter, vor Gericht oder sprechen mit den Eltern. Wir sind bewusst parteiisch, wir unterstützen die Jugendlichen, gehen aber auch kritisch mit ihnen um.

Wie war die Situation, als Gangway 1990 gegründet wurde?

Ende der 80er Jahre entstanden in West-Berlin klassische Jugendgangs mit aus US-amerikanischen Filmen entlehnten Namen. Sie trugen Jacken, die sie erkennbar machten, und waren klar zuzuordnen: die "Black Panthers" dem Wedding, die "Fighters" Reinickendorf und dem Märkischen Viertel, die "Thirtysixers" Kreuzberg 36. Sehr schnell wurden diese Gruppen 100 bis 150 Mitglieder stark. Da gab es nach jeder Hiphop-Party Schlägereien und Messerstechereien. Wir sind an den Auseinandersetzungen manchmal verzweifelt. Trotzdem hatten diese Gruppen auch etwas Gutes.

Was meinen Sie?

Es soll nicht verniedlichend klingen, aber Gruppen sind immer auch Familienersatz. Dieses Gefühl, irgendwo dazuzugehören, gemeinsam eine gewisse Stärke zu haben - diese Funktion von Gruppen haben wir immer gesehen. Mädchen und Jungen heute haben so einen Halt oft nicht.

Gangway wurde gegründet, um Kontakt zu den Gangs herzustellen.

Genau. Die eigentliche Gewalt hat sich zwischen den Gruppen abgespielt. Es gab tragische Situationen, Jugendliche wurden querschnittsgelähmt oder verloren ihr Leben. Das war ja eine verrückte Zeit Anfang der 90er Jahre. Im Osten löste sich die sowjetische Armee auf, die Jugendlichen kamen dadurch an alle möglichen Waffen. Die Öffentlichkeit nahm die Gruppen immer dann besonders wahr, wenn sie in Konflikt mit der Zivilgesellschaft gerieten. Wenn sich etwa eine Gruppe am Breitscheidplatz traf und dort die Zahl der Diebstähle zunahm. Es war klar: Man würde diese Gangs nicht in eine Jugendeinrichtung bekommen, schon gar nicht zum Keramikkurs. Da hatten die keinen Bock drauf. Deshalb gab es den jugendpolitischen Entschluss: Wir müssen dort hingehen, wo sich die Jugendlichen aufhalten.

Hat sich in den 20 Jahren die Zielgruppe verändert?

Wir haben in West-Berlin immer viel mit jugendlichen Migranten gearbeitet. Der Verein hatte von Anfang an auch Sozialarbeiter unterschiedlicher Herkunft. Seitdem es die Teams im Osten gibt, halten sich unter den Jugendlichen Deutsche und Migranten ungefähr die Waage.

Zurzeit wird viel über das Mobbing Deutschstämmiger geredet. Ein neues Phänomen?

Das glaube ich nicht. Auseinandersetzungen zwischen ethnischen Gruppen gab es schon immer, zum Beispiel zwischen türkischen und arabischen Jugendlichen. Da muss man als Sozialarbeiter oder Lehrer in die Auseinandersetzung gehen, die Weltanschauungen und Vorurteile hinterfragen. Wir versuchen, Begegnungen zu schaffen. Zum Beispiel haben wir ein Berlin-weites Hiphop-Projekt und eine Berlin-weite Fußball-Liga. Das weicht Vorurteile auf.

Wie viele Jugendliche betreuen Sie insgesamt?

Inzwischen sind es rund 3.000 Jugendliche pro Jahr. 2009 hatten wir erstmals die Situation, dass mehr als 50 Prozent davon Migranten waren. Das ist ein Ergebnis der demographischen Entwicklung. Was sich auch verändert hat, ist die Altersspanne.

Inwiefern?

Früher lag unser Schwerpunkt bei den 14- bis 21-Jährigen. Das franst heute nach oben und unten aus. Jugendliche sind heute früher sozial selbstständig. Sie bleiben aber auch länger dabei, da die ökonomische Selbstständigkeit später einsetzt.

Weil es weniger Jobs gibt?

Wir hatten Anfang der 90er einen Arbeitsmarkt auch für Menschen mit einfachen Ausbildungen oder für Hilfsarbeitertätigkeiten. Und wir hatten Programme für Benachteiligte. Da konnte man die Jugendlichen, die nichts gefunden haben, relativ schnell vermitteln. Es gab immer einige, die es nicht gepackt haben. Aber das war ein geringer Teil.

Und heute?

Inzwischen geht die Schere weiter auseinander. Einige können wir nach wie vor in den ersten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt vermitteln. Viele werden aber vom Jobcenter von einer Maßnahme in die nächste geschickt - und kommen jedes Mal frustrierter wieder raus. Dazwischen gibt es noch die mit schlechtem Realschulabschluss oder gutem Hauptschulabschluss, die es auf den ersten Ausbildungsmarkt nicht schaffen, die aber zu den Programmen für Benachteiligte keinen Zugang haben. Die fallen durch das Raster ganz durch.

Eine schwierige Situation auch für Ihre Streetworker. Sie wollen den Jugendlichen helfen, eine Perspektive zu entwickeln. Aber auch sie können Arbeitsplätze nicht erfinden.

In manchen Fällen klappt die Vermittlung schon. Wir kooperieren mit Unternehmen, die den jungen Menschen Praktika oder Ausbildungsplätze anbieten. Sicher, wir entschärfen Konflikte, wir stehen den Jugendlichen bei. Aber wenn wir gemeinsam keinen Job für sie finden, wird es schwieriger, eine Lebensperspektive zu entwickeln. Da stößt unsere Arbeit an Grenzen.

Hat sich die Einführung von Hartz IV bei den Jugendlichen bemerkbar gemacht?

Auf jeden Fall. Zum Beispiel der Beschluss, dass jugendliche Hartz-IV-Empfänger bei ihren Eltern leben müssen, bis sie 25 Jahre alt sind. Wir haben eine hohe versteckte Obdachlosigkeit in dieser Stadt. Viele junge Menschen wollen nicht zum Amt gehen und sagen: Meine Verhältnisse zuhause sind gestört, ich brauche eine Genehmigung für den Auszug. Dann würde ja bei den Eltern gekürzt. Also bleiben sie formal in der Bedarfsgemeinschaft, ziehen aber in Wirklichkeit von Kumpel zu Kumpel, sind faktisch obdachlos.

Gibt es unter Jugendlichen heute weniger Gewalt als zu Zeiten der großen Gangs?

Mein Eindruck ist: Wir hatten in den 90er Jahren mehr Gewalt. Ich bin immer wieder erstaunt, wie friedlich und angepasst unsere Jugendlichen sind angesichts der Probleme, die sie belasten. Was ich aber seit einiger Zeit wahrnehme, ist dieses Frustablassen gegenüber Unbeteiligten. Es gibt noch immer ein Gewaltproblem. Im Einzelfall wird brutal zugeschlagen, auch wenn jemand schon am Boden liegt. Das war früher anders.

Wie hat sich der Umgang mit Drogen verändert?

Anfang der 90er Jahre hatten wir es mit dem Aufkommen von Techno viel mit Party- und Designerdrogen zu tun. Heute nehmen die Jugendlichen meiner Einschätzung nach Cannabis, Tilidin und andere Stoffe nicht vorrangig zum Feiern am Wochenende, sondern um sich dicht zu machen und den Alltag zu ertragen. Auch der Alkoholkonsum hat sich verändert. Es gibt viele Jugendliche, die gar nicht trinken, aber einen anderen Teil, der exzessiv säuft.

Sind auch die Orte, an denen sich Jugendliche heute aufhalten, andere als früher?

Das kann man so nicht sagen. Es gibt eine ständige Bewegung, und die ist schneller geworden. In Zeiten des Handys können sich hunderte Jugendliche, die eben noch auf dem Alex waren, nach einem Polizeieinsatz ganz schnell woanders verabreden. Manchmal ist es schwieriger geworden, die Jugendlichen auf der Straße zu finden. Sie sind heute viel im Netz unterwegs. Wir machen Beratungen deshalb inzwischen auch über Facebook.

20 Jahre sind ein Grund, Bilanz zu ziehen. Kann man den Erfolg von Gangway in irgendeiner Form messen?

Es gibt jedes Jahr Zahlen. Im letzten Jahr haben wir zum Beispiel 117 junge Menschen auf dem ersten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt untergebracht. Aber unsere Sozialarbeiter würden sagen: Die wirklichen Erfolge sind oft die ganz kleinen: Wenn dich ein Jugendlicher zum ersten Mal offen anschaut. Oder wenn jemand, manchmal auch erst nach dem Knast, ankommt und sagt: "Gut, dass du mir damals in den Arsch getreten hast, jetzt habe ich die Kurve gekriegt." Das ist der Sinn unserer Arbeit.

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