Strategien gegen Antisemitismus: Erst reden, dann gemeinsam handeln
Eine Diskussionsrunde mit der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde und dem Innensenator sucht neue Strategien gegen den reüssierenden Antisemitismus.
"Die am besten Ausgebildeten sind doch 1933 als Erstes umgefallen!", sagte Michael Wolffsohn am Mittwoch bei einer Podiumsdiskussion im Centrum Judaicum. Während sich die deutschen Professoren und Ärzte als Erstes ihrer jüdischen Konkurrenz entledigten, "hatten die kleinen Leute noch am ehesten die Bereitschaft zu helfen", führte der Historiker vor 100 Zuhörern aus. "Allein von Aufklärung das Heil zu erwarten, reicht nicht."
Gesucht wurden an dem Abend, zu dem der Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokraten und die Jüdische Gemeinde zu Berlin geladen hatten, "neue Strategien gegen ein altes Phänomen", den Antisemitismus. Deutlich zeigte Lala Süsskind, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, wie "genervt" sie ist, weil mit dem Krieg in Gaza "das Thema wieder aktuell ist". Es mache ihr keinen Spaß, immer wieder überlegen zu müssen, "wie man den alten Hass in seiner neuen Form effektiv bekämpfen kann".
Auch Innensenator Ehrhart Körting (SPD) konnte auf die rhetorische Frage des Moderators Sergey Lagodinsky, ob sich jüdische Menschen in Berlin noch sicher fühlen können, nur mit einem "Ja, aber …" antworten. Nach einer Aufzählung einiger Taten der letzten Monate - ein Angriff auf einen jüdischen Kindergarten, umgestürzte Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee oder die vielen Hakenkreuz-Schmierereien, die er jeden Morgen in seinem Lagebericht finde - zeigte Körting seine Verzweiflung. Was sei denn zu tun, wenn von der Polizei "fünf Kinder zwischen 11 und 12 Jahren mit arabischen und türkischen Hintergrund" Flugblätter mit Boykottaufrufen gegen Lidl und Aldi verteilen, "weil diese Supermarktketten ihr Geld nach Israel spenden würden".
Für Bilkay Önay, migrationspolitische Sprecherin der Grünen im Abgeordnetenhaus, ist dies auch ein Versagen der Schulen, weil selbst gutgemeinter Unterricht zum Thema Nationalsozialismus wenig bringe. "Was haben wir denn damit zu tun", sagten viele türkei- und arabischstämmige Jugendliche und begäben sich in eine "Opferkonkurrenz". Stattdessen müssten die Schüler heute mit jüdischen Menschen in Kontakt kommen: "Christen kennen sie inzwischen, aber Juden sind für viele eine fantasierte Figur, in die sie alles hineinprojizieren".
Auch Wolffsohn sagt, er setze eher "auf Anreize, nicht Verbote", wie er es etwa mit dem "deutsch-jüdisch-türkischen Mikrokosmos" in der Gartenstadt Atlantik in der Nähe des Gesundbrunnens versuche, deren Eigentümer er ist. Gleichzeitig betonte er, dass der Staat "mit seinem Gewaltmonopol eine Ethik der Toleranz durchsetzen müsse". Dabei war er voll des Lobes für Körting. Dieser wehrte sich allerdings gegen staatliche Allmachtsfantasien und berichtete von den vielen Mühen des konkreten Polizeialltags - etwa ein Verbot der Hamas juristisch durchzusetzen.
Die von Körting geforderte Zivilcourage konnten die Zuhörer am Ende gleich umsetzen. Gemeinsam fuhr man zum Bahnhof Friedrichstraße, um sich den Protesten gegen eine NPD-Mahnwache anzuschließen (siehe oben). CHRISTOPH VILLINGER
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