Stolpersteine für Frankfurter Familie: Das Amulett aus Sobibor
In Frankfurt wurden gestern vier goldene Pflastersteine neu gesetzt. Sie erinnern an die ermordete Familie Cohn – und an ein in Sobibor gefundenes Amulett.
Auf den Steinen stehen die Namen von vier Menschen geschrieben, die vor 76 Jahren nach Minsk in den Tod deportiert wurden, weil sie Juden waren: Else Cohn, die Mutter, Richard Cohn, der Vater, und die Töchter Karolina (12) und Gitta (9).
„Unglaublich und sehr bewegend“ nennt Mandy Eisemann die Zeremonie in der Thomasiusstraße. „So etwas geschieht nur einmal im Leben.“ Mandy und ihr Vater Berry sind Verwandte von Karolina Cohn, deren Amulett Archäologen im letzten Jahr im Boden des ehemaligen Vernichtungslagers Sobibor entdeckt haben. Dieser winzige silberne Halsschmuck ist es, der den Frankfurter Oberbürgermeister Feldmann sprechen lässt, der Erinnerung wieder ermöglicht und der zu einem ungewöhnlichen Familientreffen führt.
Denn nicht nur Mandy und Berry Eisemann sind nach Frankfurt gekommen, mehr als 30 Familienangehörige der ermordeten Cohns begegnen sich schon am Sonntagabend im Jüdischen Gemeindezentrum. Manche von ihnen hatten es nicht weit wie Brigitta Hebel, die aus Darmstadt angereist ist, andere kommen aus Hongkong, New York, Boston oder Tel Aviv. Alle ihre Vorfahren aber haben einmal in Hessen gelebt. Sie sind den Nazis entkommen. Karolina und ihre Familie nicht.
Das Amulett der Karolina Cohn
Diese Stolpersteine haben eine Großfamilie zusammengebracht, die von ihrer Existenz selbst nichts mehr gewusst hat. Die Eisemanns, die Cohns, die Hebels und Bruckmanns, sie haben sich nicht gekannt, und erst der israelische Genealoge Chaim Motzen und die Claims Conference haben sie zusammengebracht.
Andere Familien reden über den zu dicken Onkel, die Gebrechen der Tante und das Neugeborene von Neffe Daniel, wenn sie sich treffen. Diese hier nicht. Hier erzählt Brigitta Hebel die Überlebensgeschichte von Louis Cohn, einem Onkel von Karolina. Shawn William Ruby präsentiert Bilder aus Bad Orb, von wo die Mutter Karolinas stammte, und Ernst Ludwig berichtet vom Exil in Italien und der Gefahr, als die Nazis das Land besetzten. Dazwischen stehen Wojciech Mazurek und Yoram Hairi und erklären, wie sie Karolinas Amulett in Sobibor gefunden haben, dort, wo einmal die Holzbaracke stand, in der den Frauen und Mädchen vor ihrer Vergasung die Haare geschoren wurden.
Und sie haben eine Überraschung mitgebracht: Mazurek präsentiert eine Replik des silbernen Amuletts von Karolina. Das kleine Stück Metall mit den geprägten Einträgen „Frankfurt a. M.“ und „3. 7. 1929“, dem Geburtstag von Karolina Cohn, kommt in die Hand von Berry Eisemann, der es weitergibt an den Enkel. So hat ein Stückchen Silber, ausgegraben im Herbst 2016, die Erinnerung geweckt – an eine ermordete Familie, an die NS-Herrschaft und daran, dass es den Nazis trotz allem nicht gelungen ist, jüdisches Leben auszulöschen und die Geschichte zu bestimmen.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Der Jahrestag der Ukraine-Invasion
Warum Russland verlieren wird
Wahlsieg der Union
Kann Merz auch Antifa?
Sieger des rassistischen Wahlkampfes
Rechte Parolen wirken – für die AfD
Alles zur Bundestagswahl
Grüne Manöver vor dem Wechsel
Alles zur Bundestagswahl
Lindner und die FDP verabschieden sich aus der Politik
Nach der Bundestagswahl
Jetzt kommt es auf den Kanzler an