Stichworte für Sibylle Berg: „Alles meine Schuld!“
Schreiben war ihr nie ein Bedürfnis, sondern ein Handwerk, sagt Autorin Sibylle Berg. Besonders schön ist, dass sie im Bett arbeiten kann.
Erste Erinnerungen
Eine Bahnschranke, die in Rangsdorf meinen Wohnort vom Dorf trennte und vor der ich große Angst hatte, denn Bahnschrankengeklingel, Hupen, Sirenen, kurz: jede Art von Krach ließen – und lassen mich bis heute – panisch werden.
Kindheit
Ich war eine Streberin. Was heißt war? Lesen, an die Wand starren und wieder lesen.
Mutter-Tochter-Beziehung
Gestört.
Der Mensch: Am 2. Juni 1962 in Weimar geboren, wuchs sie bei ihrer alkoholkranken Mutter und zeitweise bei einem verwandten Musikprofessoren-Ehepaar auf. Nach einer Ausbildung zur Puppenspielerin siedelte sie in den Westen über, besuchte eine Akrobatenschule in der Schweiz, kehrte nach Deutschland zurück, zog nach Berlin, dann nach Hamburg, arbeitete als Putzfrau, Sekretärin und vieles mehr - und begann zu schreiben. Nach einem Autounfall bedurfte es 22 Operationen, um ihr Gesicht wieder so aussehen zu lassen wie davor. Seit 1996 lebt sie in Zürich. Sie hat die Schweizer Staatsbürgerschaft angenommen und ist verheiratet.
Das Werk: Sibylle Berg schrieb bislang 11 Romane, 12 Theaterstücke und unzählige Essays. „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ (Reclam) erschien 1997 und verkaufte sich über hunderttausendmal. „Wie halte ich das nur alles aus? Fragen Sie Frau Sibylle“ (Hanser, 2013) ist nicht, wie man annehmen könnte, eine Sammlung ihrer Spiegel-Online-Kolumnen, sondern eine Benimm- und Überlebensfibel.
Der Termin: „Ein Tag mit … Sibylle Berg und Freunden“, u. a. mit Olli Schulz, Helene Hegemann, Heinz Strunk und Mary Ocher. Sonntag, 13. Oktober, 16 Uhr, Haus der Berliner Festspiele
Musik-Professoren
Gestört.
Warum Anna Sievers' Kinderwunsch in Spanien erfüllt werden kann und nicht in Deutschland – und warum ein Arzt deshalb vor Gericht steht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 12./13. Oktober 2013 . Darin außerdem: Die Schriftstellerin Sibylle Berg über das Bett als Arbeitsplatz. Und: Leinenzwang für Hunde? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Leben in der DDR
Ab ungefähr zwölf wurde es grau. Vielleicht ist es das Alter, da ich ein Bewusstsein für die Welt außerhalb von mir entwickelte und mir klar wurde, dass ich die nicht würde sehen können.
Weimar
Eng. Klein. Provinz. Ist sicher heute vollkommen anders.
Puppenspielerin
Verlegenheitslösung, weil ich noch nicht vom Bücherschreiben leben konnte und nicht Ärztin geworden bin. Dummerweise. Das habe ich bis heute bereut. Keinen Beruf gelernt zu haben, der wegen seiner Komplexität nur von wenigen kritisierbar ist.
Leben in der BRD
Am Anfang war das System sehr unbegreiflich. Ich kannte die Größe Geld nicht. Wusste nicht, warum Frauen sich unbedingt emanzipieren wollten, und auch nicht, warum so viele von ihnen nicht arbeiten gingen. Ich hatte keine Bekannten und es war Winter.
Autounfall
Shit happens.
Schreiben
War mir von Anfang an nichts Metaphysisches, kein Bedürfnis, sondern ein Handwerk, das ich unbedingt sehr gut lernen wollte, um einen Beruf zu haben, in dem es keine Vorgesetzten gäbe und den ich vom Bett ausüben könnte.
Vorwurf: Zynismus
Es wird immer auch LeserInnen geben, die mit meiner Art des Realismus nichts anfangen können und nach Erklärungen für die eigene Ratlosigkeit suchen.
Literarische Vorbilder
Immer wieder SchriftstellerInnen, die sich außerhalb der bequemen Literaturreproduktion bewegen und etwas Eigenes versucht haben. Will Self, Littell, waren die Letzten, die mich beeindruckt haben. Bücher so zu schreiben, wie sie von der Kritik und vom geneigten Rotweintrinker abgesegnet werden, finde ich tödlich langweilig. Man nennt das wohl kanonaffines Schreiben.
Schönster Satz
Das letzte Hemd hat keine Taschen. (Nicht von mir.)
Literaturkritiker
Ambivalent. Viele Knallköppe, die eben nur dem Kanon folgen aus Unfähigkeit, sich auf etwas anderes einzustellen und sich vielleicht damit zu blamieren. Viele, die wirklich für Bücher leben, leider aber kaum mehr Raum finden für ihre Arbeit. Die Guten unverzichtbar, um neue Anregungen zu bekommen und den Leser durch den Dschungel von Liebes-, Fantasie- und Vampirschrott zu führen.
Zürich
Der Ort, an dem ich die längste Zeit meines Lebens bin. War vor hundert Jahren so langsam wie ich. Heute ist es meine Heimat, weil ich fast alle der Stammeinwohner kenne. Zu Hause ist, wo man Todesanzeigen liest.
Deutschenfeindlichkeit
Interessantes Hobby. Ein bisschen so beknackt wie Israelkritiker.
Asiatisches Essen
Die einzige Form der Nahrungszubereitung, die ich goutiere. Sagt man so?
Das Bett
Arbeitsplatz, Empfangsraum für Menschen, frisch bezogen, weiß und freundlich.
„Romantik ist Bullshit“
Wer hat das denn wohl gesagt? Romantik ist ein Wort, mit dem ich nichts anfangen kann. Anderen Menschen soll es damit anders gehen. Sie lieben es, Sonnenuntergänge zu beobachten und Rosenblätter zu verstreuen. Aber vielleicht habe ich auch nur andere romantische Schlüsselreize. Mich rührt es sehr, freundliche Menschen zu treffen, die kein Geld erwarten.
Liebe
Ist für mich der Schlüssel für ein sinnvolles Leben. Ich existiere nur gerne durch Menschen, die ich lieben kann und die mich hoffentlich mögen.
Erotik
Siehe Romantik.
Sex
Siehe Erotik.
Schönheit
Ich liebe schöne Häuser und Möbel. Ich fahre mitunter sehr weit, nur um ein schönes Gebäude zu besuchen, erfreuliches Design und Architektur machen mich glücklich.
Körperpolitik
Was mag das wohl sein? Ein Zellenportfolio? Ein Körper muss gewaschen sein und nichts sollte aus ihm raushängen. Für den Rest wurde Kleidung erfunden.
Männer
Viele Idioten. Einige reizende.
Frauen
Viele Idiotinnen. Einige reizende.
Seitensprung
Unakzeptabler Schwachsinn, solange man eine gesunde Hand hat.
Prostitution
Auch auf die Gefahr hin, dass wieder einige selbstbestimmte SexarbeiterInnen mich hassen: falsch. Hat heute fast immer mit Menschenhandel und Ausbeutung sozial Schwacher zu tun. Denjenigen, die vollkommen freiwillig ohne jede psychische oder materielle Not ihren Körper verkaufen wollen, sei der Spaß gegönnt. Es ist nicht normal und darf es nie sein, dass ein Geschlecht, und meist kaufen Männer sich Frauen, das andere gegen Geld benutzt. Langes Thema.
Feminismus
Nur ein anderes Wort für die Notwendigkeit der gleichen Bedingungen für alle.
Alice Schwarzer
War immer schon da.
Angela Merkel
Die Freude, eine weibliche Kanzlerin zu haben, wird nachhaltig durch die Agenda ihrer verstörenden Partei zunichte gemacht.
Kapitalismus
In der Form, wie er jetzt herrscht, vollkommen veraltet. Sozialismus und Kapitalismus sind nicht mehr zeitgemäß. Vielleicht wäre so etwas wie ein regulierter Kapitalismus eine Zwischenlösung. Auf dem Weg wohin weiß ich aber auch nicht.
Geld
Hatte ewig lange gar keins. Dann ganz in Ordnung. Jetzt wieder keins. Haben ist angenehmer.
Macht
Vollkommen uninteressant, solange keiner Macht über mich hat.
Gewalt
Das Einzige, wovor ich mich wirklich fürchte. Aggressivität und Gewalt. Ich habe sehr lange Kung Fu gelernt, um ihr eventuell begegnen zu können. Gewalt ekelt mich an.
Luxus
Für mich: ein Haus mit einem Pool, von Lautner gebaut, in den Hügeln von Los Angeles. Das wird wohl nichts mehr.
Utopien
Ich bin immer wieder begeistert über Menschen, die Utopien haben und die geistige Kapazität, sie umzusetzen. Mit der gleichen Geschwindigkeit, in der Menschen die Erde ruinieren, entwickeln andere Gegenmaßnahmen. Das ist doch großartig. Utopien sind der Motor zu wunderbaren Leistungen. Einer Kunst, einem lebenswerten Planeten, medizinischem Fortschritt, schönen Häusern. Ja. Utopien sind das Ding.
Die Ehe
Jeder sollte den heiraten können, den er liebt, ohne eine Diskussion darüber, ob die Ehe zeitgemäß ist, sinnvoll oder vollkommen bescheuert.
Tel Aviv
Zweite Heimat.
Heimat
Erste Heimat Schweiz.
Träume
Nachts träume ich mitunter so langweiliges Zeug (ich ziehe mir einen Pullover an, zum Beispiel), dass ich oft im Traum denke: Warum bin ich nur so langweilig?
Sehnsucht
Habe ich nur nach Orten und Häusern. Die Menschen, die mich sehnsüchtig werden lassen könnten, habe ich alle erreichbar um mich versammelt.
Ängste
Gewalt. Wir sprachen darüber. Geliebte Menschen zu verlieren. Und bimmelnde Bahnschranken.
Geheimnisse
Ja, die erzähl ich jetzt alle hier im Kreise meiner lieben Leser …
Feinde
Ich habe keine Feinde, die ich kenne. Abstrakte Feinde. Nachrichtenfeinde. Aggressive, dumme Menschen. Leute, die ihre Sterblichkeit nicht begriffen haben. Oder ob mich Menschen zur Feindin haben? Keine Ahnung. Ich treffe sie nicht.
Glück
Soll mir mal keiner sagen, dass es das nicht gibt. Zusammentreffen von richtiger Zeit und richtigem Moment. Sicher gibt es das. Nach fünfzig Ablehnungen der eine Lektor, der mein erstes Buch herausgebracht hat. Sicher war das Glück. Sonst würde ich heute noch Autovermietungen putzen oder Laster fahren.
Hoffnungen
Dass alles so bleibt, wie es ist. Für mich. Dass es klüger wird. Für die Welt.
Lebensmotto
Alles meine Schuld!
Alter
Scheiß der Hund drauf!
Glauben
An mich und ein paar Freunde.
Gott
Ich falle um.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut