"Stellet Licht" von Carlos Reygadas: Ein Unglück ist ein Unglück
Der Film"Stellet Licht" erzählt eine einfache, existenzielle Geschichte aus der nordmexikanischen Steppe. Kurioserweise spielt er in einer Gemeinde, die einen plattdeutschen Dialekt spricht.
Schwärze mit kleinen weißen Punkten darin: ein Sternenhimmel. Dann, weit im Bildhintergrund, am Horizont, ein Lichtschein. Im Bildvordergrund werden Bäume sichtbar, einer links im Bild, einer rechts im Bild. Die Kamera bewegt sich langsam, sehr langsam in Richtung des Lichts, des Horizonts. Die Äste der Bäume immer größer zur Linken, zur Rechten, im heraufglühenden Morgen, dann lässt die Kamera sie hinter sich. Der Blick geht ins Freie, in die Leere einer steppenartigen Landschaft, ins Licht. Man beginnt, Dinge zu erkennen, erst Umrisse, dann Details im immer helleren Licht: Die Sonne geht auf, der Tag bricht an. Gleichberechtigt neben den Bildern, die erst zu sich kommen, ist der Ton von Beginn an präsent. Ein Grillen, Quaken, Rauschen, der schöne Krach der im Anbruch des Tages erwachenden Tiere.
Es kann einem biblisch zumute werden in den ersten Minuten von Carlos Reygadas "Stellet Licht", muss aber nicht: Es ward Licht, so einfach wie auch pathetisch - aber nichts weist in ein Jenseits des bloßen Zeigens. Wortlos wird ein Weltaufgang inszeniert in einer freien, menschenleeren Natur. Dann geht es ins Innere, zu den Menschen. Eine Familie sitzt bei Tisch, Vater, Mutter und vier Kinder. Sie alle sind einfach gekleidet, sie sprechen wenig und sie sprechen in einem niederdeutschen Dialekt. Man hört das regelmäßige Schlagen eines Uhrpendels. Die Kinder, die Mutter erheben sich, der Vater bleibt allein zurück am Tisch. Er steht auf, stellt sich auf einen Stuhl und hält die Uhr an: Weltaufgang, Zeitende. Der Vater setzt sich zurück an den Tisch, er bricht in Tränen aus, schlägt die Hände vors Gesicht, schluchzt. Das sind die ersten Szenen des Films. An seinem Ende - aber die Zeit steht ja still - sind nur fünfzehn Minuten vergangen.
Langsam nur, so langsam, wie sich die Kamera zu Beginn ins Licht bewegte, geben die Bilder, die lange in einzelnen Einstellungen verharren, eine Geschichte frei, eine Figurenkonstellation, eine Tragödie. Die Menschen, die Plautdietsch sprechen, die einfach gekleidet sind, die als kleine Gemeinde außerhalb - wie es scheint - der Gegenwartszivilisation, in dieser Steppe Nordmexikos leben, sind Mennoniten. Mit Laien, mit wirklichen Mennoniten, hat Reygadas "Stellet Licht" gedreht, da, wo sie leben. Die Geschichte, die der Film erzählt, ist nicht kompliziert: Johan (Cornelio Wall Fehr), der Vater, liebt eine andere Frau, Marianne (Maria Pankratz), er bricht die Ehe, und er weiß nicht, was tun.
Von dieser spirituellen und existenziellen Krise erzählt der Film. Er macht so wenig Worte wie seine Figuren. Wie etwas sehr Schweres senkt sich die Verzweiflung des Mannes, die seiner Frau Esther (Miriam Toews) - die weniger eifersüchtig als zum Sterben unglücklich ist -, und auch die seiner Geliebten - die die Last des Unrechts trägt, das sie begeht - in die stets sehr genau geplanten, sehr präzise gerahmten, keineswegs immer starren Einstellungen. Alle Beteiligten sind streng gläubig, aber auf Glaubensfragen zielt "Stellet Licht" nicht. Ein Unglück ist ein Unglück, und das Unglück, das mit dieser Liebe, die hinfällt, wo sie nicht hinfallen durfte, ins Leben der Beteiligten fährt, schlägt einem unmittelbar entgegen aus dem Film.
Es braucht keinen Gott dazu und keine Transzendenz. Es gibt Szenen des Glücks, Musik aus dem Radio, Johan fährt mit dem Auto dazu mehrfach im Kreis. Ein Bad der Familie in einem Teich als in die Tragödie eingelegte Idylle. Momente der Leichtigkeit - minutenlang singt einmal, ein Ereignis wie aus dem Nichts, Jacques Brel. Es gibt die tiefe Verzweiflung am Straßenrand, im Regen, fast nicht zu erkennen sind die Figuren in der herzzerreißendsten Szene dieses irdisch schönen Films. Und am Ende wird ein Wunder geschehen, das aber weniger Gott bewirkt hat als der Glaube ans Kino, nämlich an das Kino des Dänen Carl Theodor Dreyer, in dessen Klassiker "Ordet" sich dieses Wunder schon einmal ereignet hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!