: Steine des Anstoßes
■ Im Haus am Checkpoint-Charlie berichteten gestern sechs ehemalige Soldaten der Nationalen Volksarmee von ihrer Flucht über die Mauer
Die Arbeitsgemeinschaft 13. August im Haus am Checkpoint Charlie lädt anläßlich des 13. August in jedem Jahr geflüchtete DDR-Grenzsoldaten ein, um deren Geschichte vor der Presse publik zu machen. So auch gestern morgen.
In nächster Nähe zur nach DDR-Angaben schier unüberwindlichen Mauer gaben sechs sogenannte Fahnenflüchtige im Haus am Checkpoint-Charlie ihre persönliche Fluchtgeschichte zu Protokoll. Ihre Gemeinsamkeit: Alle sechs hatten den Sprung über die Grenze innerhalb des letzten Jahres gewagt. Zwei der ehemaligen DDR -Grenzsoldaten waren erst im Mai und Juli dieses Jahres gen Westen geflohen.
„Ich hab mich nur bei den Grenztruppen gemeldet, um rauszukommen“, erklärte der 24jährige Carsten vor der Presse. Er hatte Ende Mai die Unaufmerksamkeit seines Postenführers ausgenutzt und war im Süden Berlins nach Neukölln übergewechselt. Einzige Hilfsmittel, um Stacheldraht und Mauer zu überwinden: ein Hundehalsband und seine Postentasche, die er als Steigleiter benutzte.
„Unglaubliches Schwein hab ich gehabt, daß mich keiner gesehen hat“, zog der ehemalige DDR-Unteroffizier Resumee was wohl auch für seine ebenfalls geflüchteten Kollegen gelten dürfte. An der Grenze zu Bayern stationiert, hatte der 22jährige Matthias sein Militär-Motorrad im November des vergangenen Jahres voll durchgestartet und war seinem Postenkollegen schlichtweg davon gefahren. „Das ist wie ein Schritt in eine Einbahnstraße, Du kannst nie mehr zurück“, so der gelernte Polsterer, der zwölf Monate bei den DDR -Grenztruppen verbracht hat.
Am schlimmsten sei der immer präsente Schießbefehl an der Grenze gewesen. „Da hat zwar seit April dieses Jahres zwar was geändert, der Gewissenskonflikt ist aber immer noch derselbe.“ Seit neustem, so bestätigten auch die anderen ehemaligen DDR-Soldaten, stehe es nicht mehr unter Strafe, wenn auf einen Flüchtenden nicht geschossen werde. „Jetzt heißt es, daß man schießen kann aber nicht muß“, meinte auch der 24-jährige Michael, der im September '88 im Harz nach Westen übergewechselt war. „Schießt Du nicht, wirste hinterher gefragt, warum nicht. Schießte doch, heißt es danach, warum man keinen anderen Weg gefunden hat“, erklärte ein 19jähriger Flüchtling, der erst vor vier Wochen bei Göttingen „die Fliege gemacht“ hatte. Er ist der einzige, der seinen Wohnsitz bisher in Berlin gewählt hat. Alle anderen fünf ziehen die Bundesrepublik vor.
„Nee, also immer die Mauer vor Augen - da biste ja fast genauso eingeschlossen, wie drüben“, erklärte Matthias. Er wohnt seit kurzem in Karlsruhe und will dort ein Technikstudium beginnen. Seine Begründung, weshalb er das Badische vorzieht: „An der Grenze zu Frankreich haste wenigstens das Gefühl, Du kannst immer verreisen!“
cb
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen