Statt Heldentum in Fukushima: Ja, panisch werden
Der Katastrophe zum Trotz bleiben die Japaner ruhig. Dabei wären Panikattacken durchaus angebracht - als Aufstand gegen die Norm.
"Wer eine Tragödie überlebt hat, ist nicht ihr Held gewesen." (Stanislaw J. Lec)
Im umkämpften Libyen haben sich 2.000 philippinische Krankenschwestern geweigert, das Land - wie fast alle Ausländer - zu verlassen, obwohl ihre Regierung ihnen dies dringend nahegelegt hat. Gerade jetzt werden wir gebraucht, erklärten sie. Sind sie Heldinnen?
In Japan werden bei den brennenden Atomreaktoren von Fukushima 450 Hilfskräfte eingesetzt, die versuchen, das Kühlsystem wieder in Gang zu setzen - und sich dabei tödlicher Verstrahlung aussetzen. "Diese Arbeiter sind Helden," befand Isolde Charim in der taz. Der Kommentator der Zeit, Klaus Hartung, kritisierte die deutschen Hysteriker, die hier seit dem japanischen Reaktorunfall "selbstbezogen" gegen Atomkraft demonstrieren, aber völlig desinteressiert, das heißt ,"unfähig zur Anteilnahme" an den "Helden von Fukushima", seien.
Stattdessen werden sie hier als "Angeheuerte" und zum Einsatz im Reaktor Befohlene bezeichnet - während man sie in Japan als "Samurai" feiert. Sie stellen die "erste Verteidigungslinie" dar, wie Premierminister Naoto Kan sagte. Für den Samurai als Angehörigem einer Kriegerelitekaste gilt laut dem Philosophen Hojo Shigetoki aus dem 13. Jahrhundert: "Er sollte nicht an Hunderttausende von Menschen denken, wenn er kämpft, sondern nur die Bedeutung seines Herrn im Sinn haben."
Der westliche Heldenbegriff ist ein anderer. Schon die Ersten - Odysseus, Achill, Jason - verteidigten selbstbewusst ein Gemeinwesen. Und noch die Letzten - wie der legendäre Che Guevara - kämpften für ein Gemeinwesen freier Menschen. Mit den Legenden der antiken Helden kommt überhaupt das Selbstbewusstsein in die abendländische Geschichte. In seiner "Nikomachischen Ethik" definierte Aristoteles das Heldentum bereits auf eine für uns bis heute gültige Weise. Über die "Tapferkeit des Bürgerheeres" schreibt er: "Und wenn Truppenführer die Leute in die vorderste Front stellen und sie sie, falls sie zurückweichen wollen, schlagen, dann ist das Zwang. Man soll aber nicht tapfer sein aus Zwang, sondern weil es ruhmvoll ist."
In Japan ist das noch immer kein Widerspruch: Hier wird der Zwang (des Staates, des Arbeitgebers) tapfer auf sich genommen: "Diese Lebensweisheit steckt tief in den Japanern, die auch besagt, selbst in schwierigsten Situationen gelassen zu bleiben, nicht zu streiten. Das kommt vom Konfuzianismus. Dazu kommen buddhistische Einflüsse, die den Menschen nicht als Individuum, sondern als kleinen Teil des großen Ganzen, der Welt sehen", erklärte uns dazu der japanische Germanist Kennosuke Ezawa. "In Japan herrscht noch immer eine Gesinnung wie vor 150 Jahren. Man kann aber nicht immer nur lächeln, ausweichen und verzweifelt den Schein aufrecht erhalten. Man muss sich auseinandersetzen. Das zeigt die aktuelle Katastrophe."
"Die Helden von Tschernobyl bereuen nichts"
In Tschernobyl hat man den Katastrophenhelfern ein Heldendenkmal gesetzt. Inzwischen sind schon etwa Zehntausend dieser sogenannten Likwidatori an den Folgen ihrer Arbeit gestorben. Mehrere deutsche Zeitungen interviewten dieser Tagen die letzten Überlebenden: "Die Helden von Tschernobyl bereuen nichts" lauteten fast unisono ihre Überschriften. Auch den "Fukushima-Samurai" (Der Spiegel) wird man ein Denkmal setzen. Was ist aber mit den Zigmillionen Japanern, die quasi heldenhaft zu Hause ausharren und den Anweisungen der Regierung lauschen? Brechen die zum Beispiel in Panik aus, wenn sich eine radioaktive Wolke nähert, oder bleiben sie diszipliniert vor dem Fernseher sitzen?
Der japanische Sozialphilosoph Kenichi Mishima ist sich bei den 35 Millionen Einwohnern Tokios sicher: "Es wird, wenn das Schlimmste eingetreten ist, der Augenblick kommen, wo jeder seine Haut zu retten versucht, mit allen möglichen chaotischen Konsequenzen, die ein solcher Exodus mit sich bringt. Übrigens hat schon ein kleiner Exodus angefangen. Höhere Töchter der global class reisen allmählich ab. Ich persönlich könnte mit meiner Lebensgefährtin, wenn es sein muss, westwärts wegfahren. Die Vorstellung einer Autokolonne, die sich nicht vorwärtsbewegen will, lässt mich jetzt schon grausen."
Während ein taz-Leitkommentator kürzlich meinte, wer jetzt nicht in Panik gerät, der ist vielleicht bloß nicht gut genug über die Gefahren der Kernkraft informiert, versuchte der taz-Korrespondent in Tokio die Panikresistenz der Japaner auszuloten: Von einem jungen Paar erfuhr er, dass sie "sich nicht allzu viele Sorgen machen, aber vor einem fürchten sie sich ganz bestimmt nicht: vor einer öffentlichen Panik. "Das gibt es bei uns nicht. Wenn einer panisch reagiert, wird er von den anderen zur Ruhe gebracht."
Wenn es beim Heldentum darum geht, dass man sich in Gefahr begibt, um andere zu schützen, dann scheint das Gegenteil davon die Panik zu sein - bei der man davonstürzt, um sein eigenes Leben zu retten. Für den italienischen Philosophen Giorgio Agamben und die Pariser Gruppe Tiqqun ist die panische Reaktion die letzte Möglichkeit, aus der "Normalisierung" (Michel Foucault) auszubrechen, das heißt, sich aus der ideologischen Umklammerung durch den Staat, das System mit seinen unablässig zur Ruhe und Ordnung mahnenden Medien, zu befreien. Die Panik ist eine Art Negativaufstand. Für den Soziologen Albert Hirschmann gibt es in "Krisen"-Situationen überhaupt nur zwei Verhaltensweisen "Exit" oder "Voice": flüchten oder protestieren.
"Japan sagt Nein!"
1990 veröffentlichten der Sony-Konzernchef Morita und der japanische Nationalist Ishihara ein kleines Buch: "Japan sagt Nein!" Sie argumentierten darin gegen die US-Forderung nach Aufhebung der japanischen Handelsbeschränkungen. Angesichts der immer noch drohenden japanischen Atomkatastrophe käme es nun aber darauf an, dass die Japaner Nein sagen - zu ihrer "Japan AG"! Oder anders gesagt, dass sie Ja, panisch werden. Und zum Beispiel dem Vorbild der Tokioter Studenten folgen, von denen vor zwei Wochen 3.000 gegen Atomkraft demonstrierten, unter anderem mit der Parole: "Die amtierende Regierung stürzen! Lasst uns wie Ägypten die Gesellschaft verändern!"
Am Wochenende verhaftete man drei der linken "Rädelsführer". Ihre individuelle Panik mündete demnach in den kollektiven Wunsch nach einem Aufstand. "In einer Paniksituation lösen sich Gemeinschaften vom Gesellschaftskörper, der als eine Gesamtheit konzipiert ist, und wollen ihm entwischen", schreibt die autonome Gruppe Tiqqun in ihrem Buch "Kybernetik und Revolte" - und zitiert dazu den Philosophen Peter Sloterdijk: "Lebendige Kulturen sind nur durch Nähe zu panischen Erfahrungen möglich."
Die Panik ist laut Tiqqun ein "Zerfall der Masse in der Masse". Was bei der Panik "die Deiche bricht" und sich in eine potenzielle positive Ladung, "eine konfuse Intuition (in der Kon-Fusion), umwandelt", ist, dass jeder hierbei so etwas wie das lebendige Fundament seiner eigenen Krise ist, anstatt sie wie ein äußeres Schicksal hinzunehmen. Wenn man sich der Panik überlässt, geht man das Risiko des Desintegration ein, "das jeder als Restrisiko-Dividuum für die Gesellschaft darstellt."
Für Tiqqun geht es "in den letzten Tagen des Nihilismus darum, die Furcht ebenso extravagant erscheinen zu lassen wie die Hoffnung". Denn die in Panik übergehende Furcht ist geeignet, dem heutigen kybernetischen System und seinem Totalitätsanspruch zu entkommen.
Was den islamgläubigen Ägyptern das Motiv für ihre Revolution gab - das bankrotte System "Mubarak" -, wäre demnach für die technikgläubig genannten Japanern das AKW in seiner havarierten Form. Aber noch ist es nicht so weit. Noch hockt die Mehrzahl der 35 Millionen Tokioter vor den Nachrichtenspendern ihrer Regimezentralen. Erst wenn nennenswerte Teile der Bevölkerung in Panik ausbrechen, wird das die "Kybernetiker" in Panik versetzen, denn das wäre für sie das "absolute Risiko".
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