■ Standbild: Generationenverträge
„Das vergessene Leben“, Freitag, 20.45 Uhr, arte
Natürlich läßt sich die Kamera dieses Gesicht nicht entgehen. Unverfroren weidet sie sich an der Schönheit des Verfalls. Inge Meysel weiß um die Wirkung ihrer Falten. Mit 88 verändern sich die Kriterien für Eitelkeit – und auch die für eine Paraderolle.
Dies hier ist so eine Paraderolle. Allein aus dem regungslosen Gesicht der Meysel entsteht ihr Bild einer geistig verwirrten Alten. Mutterseelenallein begegnen wir ihr eines Nachts auf der Raststätte der A 1. In sich gekehrt. Summend. Verwirrt.
Minutenlang bleibt die Exposition stumm vor Entsetzen. Die Alte steht auf und wendet sich ab. Jetzt endlich fängt der Film an zu reden. Frau Namenlos wird in die Psychiatrie eingeliefert. Man fand sie ziellos auf der Autobahn wandernd. Die Greisin spricht immer noch kein Wort. Das macht den neunmalklugen Praktikanten Axel (Florian Lukas) aufmerksam ...
So beginnen bisweilen Filme. Aber im Unterschied zu so manchem Effekt heischenden Drama hält „Das vergessene Leben“ das hohe Niveau der theatralischen Eingangssequenz bravourös über die gesamte Distanz. Das Buch von Ruth Thoma ist klug, es verkauft sich nicht mit billigen Tricks. Zwar lebt der Film lange von der Frage „Wer ist diese Frau?“, aber Thoma nutzt diesen romantischen Anastasia-Effekt für ihre eigenen Zwecke aus. Als Sophias Identität endlich entschlüsselt ist, baut sich vor dem Zuschauer gnadenlos eine neue Wand auf: Während die Greisin im Kontext der professionellen Krankenhauspflege noch eine niedlich verwirrte Greisin war, entpuppt sie sich in ihrem Zuhause als unerträgliche Tyrannin, die ihre Verwandten heillos überfordert und das Familienleben zerstört hat. „Ist das jetzt eine gute Familie?“, fragt Sophia provozierend. „Ich glaube eher, du bist nicht gut für diese Familie“, stellt Axel resigniert fest. So viel zum Generationenvertrag.
Die Regie spielt ihren Star nicht ein einziges Mal zu oft aus. Mit Florian Lukas hat Claudia Prietzel zudem einen Jungstar gefunden, der es tatsächlich mit Inge Meysel aufnehmen kann. Und die Alte läßt der Jugend ihren Lauf. Auch das ein Stück Generationenvertrag. So entsteht ein wunderbares Gleichgewicht aus einem stimmigen Plot, den (bis in die Nebenrollen) hervorragenden Darstellern und einer alles zusammenführenden, kongenialen Bildgregie. So viel Gutes sieht man selten. Klaudia Brunst
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