■ Standbild: Nicht alles grün und reizend
„Claude Gerzner: Schweizer und Jenischer“, Mo., 22.30 Uhr, Arte
Claude, 29, und Yolanda Gerzner, 20, sind Schweizer und Zigeuner oder genauer: Jenische. Mit Betonung auf „UND“. Das Paar hausiert mit Besen, Schürzen, Wäscheklammern und ist nie länger als 14 Tage an einem Ort. Die Dokumentation von Stascha Bader erzählt eine traurige Geschichte, die dann doch besser wütend macht. In der Schweiz leben 35.000 Jenische, „Fahrende“. Claude Gerzners Mutter wurde zwei Stunden nach der Entbindung aus der Klinik entlassen, Claude steckte man in ein Kinderheim. Das war 1969 und gehörte zu einem Plan, den die rassistische Stiftung Pro juventute „Kinder der Landstraße“ taufte und zwischen 1924 und 1973 umsetzte. Kinder von Jenischen wurden in Heime gebracht, dort auch sexuell mißbraucht und mit Elektroschocks „behandelt“. „Die Hölle auf Erden“, erinnert sich Claude Gerzner. Später entschuldigte sich der Bundespräsident der Schweiz mit Entschädigungen, nicht aber mit der rechtlichen Gleichstellung der Jenische. Zweimal konnten Claudes Eltern ihren Sohn finden. Beide Male hat man die Familie wieder getrennt.
„Kinder der Landstraße“. Mitten in Europa. Bis 1973 (!). Auch wenn die NS-Exilforschung längst klargestellt hat, daß an und in der Schweiz nicht alles grün, bergig und reizend war und ist – ein erschlagender Fakt. Jenische schicken ihre Kinder zur Schule – und holen sie stets ab, auch aus Angst, sie könnten wieder entführt werden. Jenische haben eine eigene Sprache, eigene Sitten und Gebräuche. Wenn ein jenisches Paar zusammenlebt, gilt es als verheiratet. Wie einleuchtend.
Stascha Bader respektiert das Anderssein der Jenischen durch vorsichtige Distanz. Viele von Claude Gerzners Verwandten sind in den NS-Jahren „verschollen“. Bader rührt die schreckliche Vergangenheit nicht als Betroffenheitsvehikel auf, sondern wendet sie in die Gegenwart. Die Jenische kämpfen für eine politische Lobby und sehen sich auch heute bürokratischen Schikanen ausgesetzt. Bevor Claude Gerzner überhaupt in einem Ort arbeiten darf, braucht er einen blütenweißen Auszug aus seinem Strafregister und ein Arbeitspatent. Man konnte und mußte viel begreifen an dieser Politik, die eine ganze Bevölkerungsgruppe latent zu kriminalisieren trachtet. „Ich wünsche mir, daß wir nicht stören“, sagt Claude am Ende. Anke Westphal
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