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Standbild: Späte Wiedergutmachung

■ Jenninger - Was eine Rede an den Tag brachte

Jenninger - Was eine Rede an den Tag brachte, Samstag, 21.10 Uhr N3, 21.55 Uhr WDR. Am 10.11.1988 gab das deutsche Fernsehen Bundespräsident Phillip Jenninger durch manipulativ geschnittene Zitate aus seiner Gedenkrede zur „Reichskristallnacht“ den entscheidenden Stoß. Das war an einem Donnerstag in den Hauptnachrichten der großen Programme zur besten Sendezeit. Die Wiedergutmachung erfolgte jetzt mit einjähriger Verspätung durch eine lange „Kultursendung“, die an einem Samstag abend nur in zwei Regionalkanälen ausgestrahlt wurde. Noch dazu an einem Tag, an dem die Weltöffentlichkeit nur Augen und Ohren für die sensationellen Ereignisse an der deutsch-deutschen Grenze hat. Aber das konnten die Programmplaner ja nicht ahnen. So ist das eben mit Wiedergutmachungen.

Werner Hill montiert und kommentiert vielfältiges Interviewmaterial. Daraus geht hervor, daß Jenninger auf Druck seiner heuchlerischen politischen „Freunde“ zurücktrat, denen das Bild in den Medien wichtiger war als die Wahrheit. Fernsehdemokratie, wie sie im Buche steht.

Hill zeigt uns jetzt die nüchterne Wahrheit: Jenninger hat in seiner Rede nicht ein Wort gesagt, das die NS-Verbrechen beschönigt hätte. Im versteckten, aber beabsichtigten Unterschied zu Richard von Weizäcker hat er nicht wieder nur Hitler und dessen Clique, sondern eine überwältigenden Mehrheit der damaligen Deutschen verantwortlich gemacht. Und im offenen Gegensatz zur CSU hat er betont, daß unter die Vergangenheit kein Schlußstrich gezogen werden kann.

Für Zweifler war erhellend, endlich einmal nicht nur den Text der Rede zu lesen, sondern das Bild des schwerfälligen Mannes zu sehen, wie er sich vor dem Bundestag abquälte. Von einer Körpersprache, die verraten hätte, daß Jenniger der von ihm geschilderten Faszination erlegen gewesen wäre, habe ich nichts entdeckt. Wohl aber Steifheit, Unbeholfenheit, bald auch mühsam beherrschte Verwirrung, als er spürte, wie ihm aus dem Plenarsaal Kälte entgegenschlug. Was qualifiziert eigentlich für ein Staatsamt? Unempfindlichkeit und schauspielerisches Talent - oder die Fähigkeit, Problemen auf den Grund zu dringen? Daß Jenninger letzteres gelungen ist, haben die Bürger besser gespürt als die Medien: Zehntausend Briefe hat er bekommen, darunter zustimmende von Juden und manche hämische von Neonazis.

Für mich am interessantesten: Was die Abgeordnete der Grünen, Jutta Oesterle-Schwerin, zu sagen hatte, die den Skandal auslöste, indem sie den Redner schon nach wenigen Minuten mit einem Zwischenruf unterbrach und als erste den Saal verließ. Sie wollte damit nicht speziell Jenninger und seine Rede anprangern, sondern die Verlogenheit solcher Gedenkrituale im allgemeinen, denen keine politischen Taten folgen. Daß sie damit ausgerechnet den Politiker zu Fall brachte, der mit vierzig Jahren heuchlerischer Gedenkkultur aufgebauten Tabus brechen wollte, ist fast schon tragisch. Jedenfalls hat sie der Jenninger-Rede durch ihr Verhalten eine öffentliche Aufmerksamkeit verschafft, die ihr sonst nicht zuteil geworden wäre. Die Ironie des Umwegs, den die Aufklärung hier genommen hat, mag ein wenig mit dem Vorgang versöhnen. Aus ihm zu lernen wäre, daß gerade alternative PolitikerInnen traditionelle Diskurstugenden wie Unvoreingenommenheit und Zuhören nicht verachten sollten.

Hills genaue, aber etwas langatmige Dokumentation hat freilich auch Schwächen. Eine medienspezifische ist, daß das hier notwendig gewordene Nachspielen von Gesprächen durch Schauspieler von der Sache ablenkt. Eine weitere, das Hills Medienkritik die Presse aufs Korn nimmt, besonders die ausländische und die linke, während das eigene Medium Fensehen ziemlich ungeschoren davonkommt. Im großen und ganzen hätte ich mir etwas weniger Material, besonders zu Jenningers Biographie, und etwas mehr prägnante Konzentration auf die Rede selbst gewünscht. Aber das sei der Vollständigkeit halber angemerkt zu einer Sendung, für die auch im ersten Programm Platz sein müßte. Vorerst kann man kann man nur weiter hoffen, daß sich erfüllen wird, was in einem der Briefe an Jenninger steht: „Die Wahrheit siegt, wenn auch etwas später.“

Horst Pöttker

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