kritisch gesehen
: Stalin, Putin und das Theater um die Politik
Einen Blick zurück nach vorn versucht das Staatstheater Braunschweig mit der Uraufführung der zu Beginn des Zweiten Weltkriegs geschriebenen Justizfarce „Die Schritte der Nemesis“. Autor Nikolai Evreinov war aus der Sowjetunion geflohen und kritisierte im Pariser Exil den Stalinismus anhand der Schauprozesse gegen die nicht devot dem Stalinkult folgende Führungsetage der Bolschewiki. Nicht als Reenactment oder Dokumentartheater der Willkür, sondern als grundsätzliche Abrechnung mit dem autoritären Unrechtssystem. Wie traurig aktuell der Text anno 2022 ist, wo Russland die Barbarei des Krieges feiert, konnte die vor Langem für die Inszenierung entwickelte Kooperation von Wissenschaftler:innen der Uni Zürich, die das Stück erstmals auf Deutsch und Englisch herausgebracht haben, und dem International Laboratory Ensemble dabei nicht vorhersehen.
„Die Schritte der Nemesis“ zeigt den Machtkampf als Verrat- und Intrigenspiel in ständig wechselnden Koalitionen hinter den Kulissen. In Braunschweig wird entsprechend hinter einer Leinwand agiert, auf der das Geschehen dann als Live-Videostream zu sehen ist.
Zuerst huschen die Angeklagten noch entgeistert über die Gerichtssaalbühne vor der Leinwand. Bald aber ist dies der Freiraum, in dem das Stückpersonal mit grotesker Mimik und Gestik ihr Innerstes nach außen kehrt: Verzweiflung, Angst, rasende Wut, Ekel, begleitet von der tonal sich befreienden Musikavantgarde der Zwischenkriegsjahre.
Spannend wird die Aufführung, wenn der aus Belarus geflüchtete Schauspieler Andrey Urazov in der Rolle von Karl Radek – radikaler Sozialist und Lenin-Freund – sich seine Empörung aus dem Leib spielt über die Systeme Stalin, Putin und Lukaschenko. Akut gegenwärtig wird die Aufführung, wenn die Performerin Antonina Romanova nur per Video auf der Bühne auftaucht und betont, in einem Keller in der Ukraine zu sitzen – und erklärt, die Sprache der Aggressoren derzeit nicht sprechen und daher auch den Russland-kritischen Evreinov-Text nicht spielen zu können. Das gehört nicht zur Show, das ist ein authentisches Statement.
Die Regie zieht noch eine Handlungsebene ein: den Autor, der von einem Tennisschiedsrichterstuhl aus das Geschehen aus Sicht seiner These erklärt, wir seien alle Dramatiker, Dramaturgen, Zuschauer und Spieler unseres Lebens. „Natürlichkeit ist auch nur eine Pose“, sagt er, jedwede Selbstdarstellung im Alltag, ja, überhaupt alles sei Theater. Zu erleben ist in Braunschweig also Theater zur Entlarvung des Theaters.
So gelingt ein schlüssiger Abend über die Theatralisierung des Politischen. Hören, sehen, erleben will das allerdings kaum jemand: In der besuchten Vorstellung saßen mit mir nur 18 Zuschauer im Staatstheater. In der russischen Kultur das Gift der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu entdecken, scheint derzeit Kassengift zu sein. Jens Fischer
„Die Schritte der Nemesis“: Fr, 17. 6., und Sa, 18. 6., 19.30 Uhr, Staatstheater Braunschweig