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Stadtplanung Der niederländische Architekt Winy Maas will den öffentlichen Raum neu erschließenBauen für das vertikale Dorf

von Klaus Englert

Im Jahr 2000 betrat ein junges holländisches Architektenteam mit einem Paukenschlag die internationale Bühne. Ihr Name war reichlich kryptisch. Die drei Rotterdamer nannten sich kurz MVRDV, wohinter sich ihre Familiennamen Maas, van Rijs und de Vries verbargen. Ort des Geschehens war die Expo in Hannover, mit der Bundeskanzler Gerhard Schröder die niedersächsische Landeshauptstadt, wo er noch zuvor Ministerpräsident war, zu einer global city machen wollte.

Schon lange vor Eröffnung der Weltausstellung galt der Niederländische Pavillon, für den das Rotterdamer Trio verantwortlich war, in Architektenkreisen als Sensation. Niemand konnte sich daran erinnern, auf einer Weltausstellung ein derart kurioses Gebilde gesehen zu haben. Tatsächlich lag den dreien nichts daran, innovative Architektur zu bauen. Ihr Turm war kondensierte Sozialutopie, ein visionäres Stadtmodell, gestapelt zu einem dreigeschossigen Pavillon. MVRDV vermittelte das zu einer vertikalen Stadt geschichtete Bild einer urbanen Selbstversorger-Gemeinschaft, die sich nach den Gesetzen des Naturkreislaufs ausrichtet. Die Architekten Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries dachten angesichts des Klimawandels an ein neues Natur- und Technologieverständnis, verbesserte Lebensqualität und neue Formen des Zusammenlebens.

Unter deutschen Besuchern gab es damals ungläubiges Staunen, weil man einen völlig ideologiefreien Umgang mit der Natur nicht gewohnt war. Da waren die Niederländer, seitdem sie damit begannen, die Zuidersee zu kultivieren, den Deutschen, die in romantischen Ideen befangen waren, einen großen Schritt voraus.

Winy Maas, der anfangs im kleinen Boskoop Landschaftsarchitektur studierte, sagt heute: „Viele Grüne, die die Konsumenten-Mentalität, Asphalt und Maschinen kritisieren, hängen noch immer einem romantischen Naturbild an. Wir als holländische Architekten denken an eine ‚neue Natur‘, wir wollen Technologie und Natur zusammenbringen. Wir sehen auch das Künstliche in der Natur, deswegen meinen wir, dass beide – Natur und Technologie – nutzbringend aufeinander einwirken können.“

Ein soziales Labor

In den letzten 16 Jahren haben Winy Maas und MVRDV das Modell des Hannoveraner Expo-Pavillons großmaßstäblich weiterentwickelt. Deswegen spricht Maas heute vom vertical village: „Der Expo-Pavillon dient uns als Labor, als eine Art Utopie. Die Niederländer waren immer auf der Suche nach mehr Lebensraum, doch heute können wir die benötigten Flächen nur gewinnen, wenn die Städte in die Höhe wachsen. Wir müssen die dringende Frage klären, wie sich Lebensqualität mit der zunehmenden Dichte in den Städten verträgt. Und wie sich öffentliche Plätze nicht nur erhalten, sondern auch erweitern und verbessern lassen.“

Winy Maas möchte eine weitere Stadtebene erschließen, um Fußgängerzonen und Promenaden zu erweitern

Winy Maas ist überzeugt, dass sich die Qualität urbanen Lebens an der Qualität öffentlicher Räume misst. In deutschen Planungsämtern hat man sich, so Maas, allzu sehr vom quantitativen Aspekt leiten lassen und die Notwendigkeit, gut gestaltete und lebendige Plätze zu entwickeln, vernachlässigt. „Wenn wir uns als Architekten nicht mehr länger für den öffentlichen Raum einsetzen, dann können wir uns verabschieden. Darin besteht für mich die politische Rolle der Architektur. Ich werde mich in diesem Sinne engagieren und hoffe, mit Angela Merkel zu sprechen.“

Das ist kein rhetorischer Aktivismus. Denn erst im letzten Jahr, als seine Heimatstadt „Rotterdam Celebrates the City“ feierte, um an den Wiederaufbau nach dem deutschen Luftangriff von 1940 zu erinnern, schuf Maas eine eindrückliche Architektur für den demokratischen Stadtraum. Maas, der mit seinem Team ein Jahr zuvor die „Markthal“ als vibrierendes neues Stadtzentrum schuf, errichtete am sensiblen Punkt des neuen Bahnhofsplatzes eine überdimensionale Treppenkonstruktion, die hinauf zur großartigen Dachlandschaft des Groot Handelsgebouw führt. 380.000 Menschen nutzten einen Monat lang die Möglichkeit, ihre Stadt aus der Vogelperspektive wahrzunehmen. „Wir stellten uns der Frage: Wie sollen wir heute weitermachen, nachdem Rotterdam in den fünfziger Jahren als funktionalistische Stadt wiederaufgebaut wurde? Unser Treppenprojekt steht für ein neues Rotterdam.“

Tatsächlich möchte Maas, wie auch seine Rotterdamer Kollegen von ZUS Architects, eine weitere Stadtebene erschließen, um Fußgängerzonen und Promenaden zu erweitern. Maas erinnert daran, dass das Modell der europäischen Stadt seit Ende der achtziger Jahre besonders von Barcelona wiederbelebt wurde, in einer Zeit, als viele lateinamerikanische und westeuropäische Architekturstudenten dort die Funktionsweise des viel gerühmten „Modell Barcelona“ studierten. Was die Studenten an der Architekturfakultät Barcelona gelernt hatten, brachten sie in die lateinamerikanischen Metropolen wie Bogotá und Medellín zurück und gestalteten ein Stadtbild, das an den Bedürfnissen der dort lebenden Menschen ausgerichtet ist.

Vorreiter Asien

Dazu gehört der gut gestaltete öffentliche Raum, vornehmlich Straßen, Plätze und Parks. Heute folgt Maas, der einige Jahre lang Barcelonas Baudezernat beriet, allerdings dem Koolhaas’schen Motto „Go East“: „Mittlerweile haben viele asiatische Städte die führende Rolle übernommen. Zu diesen Städten gehört Seoul, wo wir den ‚Skygarden‘errichten, der in diesem Frühjahr eröffnet. Dabei handelt es sich um einen knapp 1 Kilometer langen Highway in einem verkehrsreichen innerstädtischen Gebiet. Zunächst sollte er abgerissen werden. Doch nach eingehenden Beratungen mit der Stadtverwaltung und den Anwohnern verwandeln wir ihn in eine Fußgängerzone mit 254 Arten einheimischer Bäume, Sträucher und Blumen.“

Winy Maas baut heute nicht allein im koreanischen Seoul. In Peking entwickelt er, mithilfe privater Investoren, „The Collective Hutong“, ein Projekt, das die von starken Abwanderungen betroffene historische Siedlung mit alternativen Nutzungen, partiellen Verdichtungen und verbesserten öffentlichen Räumen wieder lebensfähig machen soll. Begeistert ist Maas auch von einem taiwanesischen Projekt, das er in der Metropole Tainan durchführt. „Ein monströses chinesisches Einkaufszentrum hat den freien Blick zum Meer versperrt. Wir rissen es ab und ließen sozusagen als Mahnmale die Betonpfeiler stehen. Die werden demnächst aus einem abgesunkenen, künstlichen See her­ausragen, der von Palmen gesäumt ist. In dem See können die Menschen sogar baden.“ Der Rotterdamer global player ist sich durchaus bewusst, dass das chinesische oder taiwanesische Projekt keineswegs als politisch neutral durchgeht. Das ist ihm gerade recht. Maas fühlt sich bestätigt, wenn sich plötzlich nicht nur Politiker, sondern auch die Stadtbewohner mit den neu gewonnenen öffentlichen Räumen identifizieren.

Der Rotterdamer Architekt streitet heute für seine Ideen gleichzeitig auf ganz unterschiedlichen Schauplätzen: In Mannheim recycelt MVRDV die 144 Hektar umfassende Zone der amerikanischen Franklin-Kasernen und formt Teile davon zu einem Grünen Hügel, der Platz bieten wird für neue Wohnungen, Geschäfte, Cafés, Restaurants und Gemeinschafts­einrichtungen. Derzeit arbeitet MVRDV auch an neuartigen Blockstrukturen mit vielen unterschiedlichen Wohnungstypen – darunter Wohnungen für Flüchtlinge, Sozialwohnungen, ebenso Appartements für Besserverdienende. Diese Mischung von Wohnungstypen innerhalb von Blockstrukturen, die sich Maas auch für den Kurfürstendamm vorstellen kann, versteht er als „Ausweis zivilisatorischen Fortschritts“.

Es verwundert nicht, dass Maas an vielen internationalen Hochschulen zwischen Amsterdam und Hongkong gefragt ist. Er versteht sich jedoch nicht als umtriebiger Jetset-Star, der an allen Baustellen und Universitäten der Welt zu Hause ist. Vielmehr träumte er lange davon, sein eigenes Labor, seinen eigenen Thinktank zu betreiben. So gründete er 2008 „The Why Factory“ an der Architekturfakultät Delft. Kürzlich kamen hier Studenten der TU Delft mit Kommilitonen aus New York und Chicago zusammen, um den ökologischen Fußabdruck der weltweiten Stadtbevölkerung zu ermitteln. „In der Why Factory entwickeln wir Szenarien für die Stadt der Zukunft. Wir fragen uns: Wie verändern sich städtische Grünflächen? Welchem Wandel unterliegt die Mobilität? Und wie ändern sich die urbane Dichte, die Ernährung und das Zusammenleben der Menschen. Warum sollten nicht Städte vorstellbar sein, in denen Tiere auf grünen Hausdächern grasen?“

Wenn der Tierfreund Winy Maas heute nochmals einen Expo-Pavillon errichten sollte, dann würde er bestimmt auch an Ziegen und Schafe denken.

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