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StadtgesprächGabriele Lesser aus WarschauDie Möglichkeit von Krieg: Wenn Studierende sich plötzlich über einen Fluchtrucksack austauschen

Meinen Notfallrucksack habe ich immer dabei, auch hier in der Uni“, sagt der litauische Austauschstudent Linas zu seinen polnischen Kommilitonen. Die Mensa der Warschauer Wirtschaftshochschule SGH ist ein beliebter Treffpunkt. Tische und Stühle stehen nicht in Reih und Glied, sondern durcheinander wie in einem Bistro, zudem gibt es eine Terrasse und einen gepflegten Garten mit großen alten Bäumen. „Man weiß nie, wann der Krieg ausbricht. Das kann in einem Jahr sein, in einem Monat oder schon morgen“, ist Linas überzeugt.

Die 22-jährige Dorota zieht aus ihrer knallgelben Umhängetasche ein zerfleddertes DIN-A4-Heft. „Sicherheitsratgeber“ steht darauf und die Abkürzung MSWiA für das polnische Innenministerium.

„Seit dem russischen Drohnenangriff auf Polen vor ein paar Tagen denke ich Tag und Nacht da­rü­ber nach, was ich selbst tun kann. Denn selbst wenn unsere Soldaten oder die der Nato sofort zurückschießen, kann es doch sein, dass auch wir hier bald einen Krieg haben wie in der Ukraine. Und dann?“

Sie schlägt den Ratgeber auf: „Ich will auch einen Fluchtrucksack packen, aber doch nicht so ein großes Ding wie du, Linas. Das kann man ja kaum schleppen!“

Linas hievt den großen olivgrünen Rucksack auf einen Stuhl und beginnt ihn auszupacken. „Das Wichtigste ist“, sagt der gut trainierte 24-Jährige, „dass man genau weiß, wo was ist. Es macht keinen Sinn, wenn man ewig suchen muss, wo jetzt das Handtuch ist, das Messer oder die Schokolade.“ Von den anderen Tischen auf der Terrasse gucken ein paar neugierige Studierende herüber. „Darf ich mich dazustellen?“, fragt Alexander. „Hast du auch eine Waffe, also eine Pistole?“

Linas schüttelt den Kopf: „Ich habe keine Lust auf Probleme mit der polnischen Polizei“, sagt er. „Aber ich habe tatsächlich einen Waffenschein. In Litauen machen viele eine Sportschützenausbildung. Direkt nach dem Angriff Putins auf die Krim habe ich angefangen mit dem Schießtraining.“

Filip, der schon vorher mit Dorota und Linas zusammensaß, wird ungeduldig: „Jetzt pack schon aus!“ Nach und nach landen auf dem Tisch eine Isomatte, ein Schlafsack, eine wasserdichte Dokumentenmappe, Medikamente, Verbandszeug, ein leichter Wasserfilter, Campinggeschirr, ein Spirituskocher, zwei schnell trocknende Handtücher, Hygieneartikel und ein paar Klamotten. Außerdem Proviant für drei Tage und ein Beutel mit Elektronik.

Filip greift nach dem kleinen Kurbelradio: „Was ist das denn?“ Linas lacht: „Das ist ein Multifunk­tions­teil: Radio, Powerbank und Taschenlampe. Man kann Blinksignale senden und einen SOS-Alarmton auslösen. Sehr praktisch.“ Dorota ist begeistert: „Toll!“, und zückt ihr Handy: „Darf ich das fotografieren? Meine Eltern wollen sich auch so einen Rucksack zusammenstellen.“

Alexander hingegen nörgelt: „Das dauert ja ewig, bis ich alles gekauft habe. Die Rucksäcke kann man doch auch schon fertig gepackt kaufen. Ist das nicht besser und einfacher?“

Linas nickt: „Ja, klar. In Litauen kann man Fluchtgepäck inzwischen überall kaufen. Die besten, aber auch schwersten gibt es in Militarialäden, billigere im Internet oder in Sport- und Campingläden. Es gibt sogar spezielle Rücksäcke für Kinder.“

Filip stellt das Kurbelradio zurück auf den Tisch. „Und wenn du einen Bunker brauchst? Weißt du denn auch in Warschau, wo es sichere Schutzräume gibt? Vielleicht die Metro, so wie in der Ukraine?“

Alexander unterbricht ihn: „Polen hat den Zivilschutz jahrzehntelang links liegen gelassen. Die alten Bunker aus der Zeit des Kalten Kriegs sind heute nur noch Ruinen. Neue wurden nicht gebaut. Am Anfang sollten die Metrostationen eine Bunkerfunktion bekommen, aber das war den Politikern dann doch zu teuer.“ Dorota steht auf: „Vielen Dank, Linas. Ich packe mir auch so einen Rucksack. Aber ich hoffe, dass wir noch mal verschont werden. Ich will keinen Krieg.“

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