Stadtgespräch: Der Irre im Osten
Der Donezk-Separatistenchef ruft „Kleinrussland“ aus. Was das soll? Keiner weiß es
Bernhard Clasen Aus Kiew
Nachdem Alexander Sachartschenko, Chef der „Volksrepublik Donezk“,Mitte dieser Woche einen neuen Staat „Kleinrussland“ ausgerufen hat, rätselt man in Kiew, was der Separatistenchef damit wohl im Sinn gehabt haben könnte.
„Ich habe mich zunächst überhaupt nicht dafür interessiert“, berichtet Juri, der jeden Tag mit seinem Fahrrad zur Arbeit hetzt und gerade in einem Café angekommen ist. „Doch sofort nach Ausrufung des neuen Staates sind die Kämpfe an der Front eskaliert, haben die Separatisten in 24 Stunden neun ukrainische Soldaten getötet.“
In Juris Stimme klingt Wut mit. Mit der Ausrufung von „Kleinrussland“ – das die gesamte Ukraine (ohne Krim) umfassen soll, mit Donezk als Hauptstadt – unterstrichen die Separatisten nicht nur ihre Nähe zu Russland. Gleichzeitig legten sie auch das dem russischen Nachbarn so typische imperiale Gehabe an den Tag, so Juri, der sich daran erinnert, dass vor einem Jahr sein Freund, ebenfalls ein begeisterter Fahrradfahrer, an der Front ums Leben kam.
Sein Gesprächspartner, ebenfalls mit dem Fahrrad angekommen, wähnt einen pragmatischeren Grund hinter dem Vorstoß aus Donezk. „Derzeit stehen die Chancen auf eine Einigung nicht schlecht, es wird intensiv verhandelt, in Minsk und am Telefon. Die USA wollen sich aktiver einbringen.“ Und das wolle der Krieger Sachartschenko torpedieren.
Die Regierung der Ukraine wertet die Ausrufung „Kleinrusslands“ als ein von Moskau gesteuertes Manöver und als erneuten Beweis für die aggressiven Pläne von Putin. Nach Auffassung von Darka Olifer, Sprecherin von Expräsident Leonid Kutschma, der bei den Minsker Verhandlungen die Ukraine vertritt, müsse Russland jetzt, um guten Willen zu beweisen, seine Anerkennung von Dokumenten der nicht anerkannten „Volksrepubliken“ und die Ausdehnung der Rubelzone auf die Separatistengebiete zurücknehmen. Auch müsse die Verstaatlichung ukrainischer Firmen durch die Volksrepubliken rückgängig gemacht werden.
Vielleicht geht es dem selbst ernannten Herrscher von Donezk einfach um sich selbst. Der ukrainische Politologe Ruslan Bortnikow vermutet eigene Ambitionen Sachartschenkos: Dieser wolle den Minsk-Prozess scheitern lassen. Auch das ukrainische Internetportal Apostrophe sieht in der Ausrufung von „Kleinrussland“ persönliche Ambitionen. Dafür spreche, dass sich die „Volksrepublik Lugansk“ und der Parlamentssprecher der „Volksrepublik Donezk“, Denis Puschilin, davon distanziert hätten.
Der aus Donezk stammende linke Aktivist Enrique Menendez sieht in „Kleinrussland“ den Versuch, ein Bild einer anderen Ukraine zu entwerfen. Ungefähr 30 Prozent der ukrainischen Gesamtbevölkerung, so Menendez, seien mit der ukrainischen Westorientierung seit 2014 nicht einverstanden. Diesen Teil der Bevölkerung wolle Sachartschenko ansprechen.
Aber, meint er weiter, das Projekt sei rückwärtsgewandt und daher zum Scheitern verurteilt. Der in Donezk geborene Sohn spanischer Antifaschisten macht sich keine Illusionen über die dortigen Machthaber. Er war im Februar 2016 von diesen aus Donezk ausgewiesen worden und musste sich nachts zu Fuß über Minenfelder auf die andere Seite aufmachen.
Für die Radfahrer im Kiewer Café ist die Idee eines Gegenentwurfs zur Ukraine Unsinn. „Ein Staat, der bei seiner Gründung drei Jahre Ausnahmerecht und das Verbot aller Parteien ankündigt, hat für mich keine Anziehungskraft“, sagt Juris Gesprächspartner. Dieses Gebilde werde nicht einmal Nordkorea anerkennen, meint er.
Ironisch kommentiert der aus Lugansk stammende Blogger Andrey Dikhtyarenko: „Die armen Bewohner der besetzten Gebiete. Zuerst sagte man ihnen, sie seien nun ‚Neurussen‘. Dann hat man ihnen gesagt, sie seien Russen.“ Später wurden sie mal als Kosaken und mal als Angehörige einer „Donbass-Ethnie“ bezeichnet. Nachdem sie eine Weile „die zwei Völker des Donbass“ gewesen seien, habe man sie nun zu Kleinrussen erklärt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen