Stadtgespräch: Italien trauert
Nicht das erste Erdbeben und sicher nicht das letzte. Erschüttert es diesmal endlich die Politik?
Michael Braun Aus Rom
Ein paar Blumen vor der geschlossenen Bar gleich um die Ecke erinnern an Vinicio Valentini und seine Frau. Ein Freund hatte schon am Abend nach dem Beben Sorge geäußert, alle in der Nachbarschaft wussten, dass der ältere Herr aus dem Dorf Accumoli stammte, dass er und seine Gattin dort immer den August verbrachten. Jetzt ist es traurige Gewissheit: Die beiden sind von den Trümmern ihres Häuschens erschlagen worden.
Viele der Opfer des Erdbebens kommen aus Rom, waren in ihren Ferienhäusern oder bei Verwandten in Accumoli oder Amatrice. Nachbarn sind schockiert, Verwandte und Freunde trauern. Und ganz Italien nimmt Anteil. Ausführlich berichten die Medien über jede Urlauberfamilie, die ausradiert wurde; über die junge Frau, die nach dem Beben von 2009 aus L’Aquila weggezogen war und jetzt ihre erst 18-monatige Tochter verlor; über den Polizeipräsidenten von Frosinone, der mit bloßen Händen den Schutt beiseite räumte, um den Leichnam seines Sohns zu bergen.
So gut wie keine Bilder gibt es dagegen von Politikern in der Trümmerkulisse. Beim Beben 2009 hatte der damalige Regierungschef Silvio Berlusconi in den Abruzzen ein wahres mediales Feuerwerk abgebrannt, den Schutzhelm auf dem Kopf, große Versprechen im Mund, und neben ihm war seinerzeit das halbe Kabinett angereist, um den Helfern tagelang im Weg zu stehen.
Jetzt zeigt sich Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi klüger und sensibler. Er verzichtet auf mediale Inszenierungen, und er wählt seine Worte mit Bedacht. Gewiss, Italien sei „ausgezeichnet bei der Meisterung von Notstandssituationen“, erklärte er, aber das reiche einfach nicht, das Land müsse sich endlich von der „Logik des Notstands“ verabschieden und sich stattdessen eine „Kultur der Prävention“ zu eigen machen.
Damit trifft der Premier einen Nerv bei den Italienern. Kaum jemand hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht schon einmal mehr oder minder starke Erdstöße verspürt. In den letzten 50 Jahren erschütterten etwa 15 Beben mit Todesopfern den Stiefel, waren fast 5.000 Tote zu beklagen.
Und der Staat ließ sich diese Beben einiges kosten – beim Wiederaufbau. Insgesamt flossen etwa 150 Milliarden Euro. Allein nach dem Beben in Kampanien 1980 – 3.000 Tote – wurden rund 60 Milliarden Euro locker gemacht. Diese Zahlen rechnen die Zeitungen des Landes jetzt wieder ausführlich vor, ebenso wie die Tatsache, dass die Hilfen oft genug versickerten. Und sie äußern die Furcht, dass es diesmal weitergeht wie gehabt.
„Warnung an die Leser: Dieser Artikel ist mit hoher Sicherheit unnütz“, beginnt Chefredakteur Marco Travaglio seinen Kommentar im Il Fatto Quotidiano, „so wie all die Artikel, die wir nach den Beben in der Emilia, in den Abruzzen, in Umbrien geschrieben haben“. Und der Corriere della Sera beklagt „die Irrtümer, die Amnesien, das Gewurstel, die Betrügereien, die in Italien die Nachbebenphasen in einen Albtraum verwandelten, der länger anhielt als die Beben selbst“.
Eine Zahl vor allem beherrscht die Diskussion: eine Milliarde Euro. Mehr hatte Italien in den letzten sieben Jahren nicht übrig, um die Sicherheit von Gebäuden – Wohnhäuser, aber auch Schulen und Krankenhäuser – zu erhöhen. Und effektiv wurden von dieser Milliarde am Ende nur 200 Millionen abgerufen.
In L’Aquila wurde 2009 das örtliche Krankenhaus zum Symbol des Versagens. Ausgerechnet als es am meisten gebraucht wurde, brach es infolge des Bebens zusammen. Ein ähnliches Symbol ist jetzt die Schule von Amatrice, vor vier Jahren erst „erdbebensicher“ gemacht. Die Schule stürzte zusammen, die Staatsanwaltschaft ermittelt.
„Ist unser Wohnblock eigentlich erdbebensicher?“ – diese Frage taucht jetzt in Gesprächen immer wieder auf. Keiner weiß es so genau. Einigermaßen sicher ist nur, dass zwischen 60 und 70 Prozent der Wohnhäuser wohl als unsicher gelten müssen, ja, dass selbst jede zweite Schule bei einem Beben einsturzgefährdet wäre.
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