piwik no script img

StadtentwicklungEin Quartier entlang dem Mauerstreifen

20 Jahre nach dem Mauerfall gibt es erstmals eine städtebauliche Rahmenplanung für die Luisenstadt. Das Gebiet ist bis heute durch Mauerbrachland und Bausünden gekennzeichnet.

Wo Mauer war sollen neue Wohnungen entstehen. Bild: ap, Jockel Finck

Ein völlig neues Stadtquartier könnte in den nächsten Jahren zwischen den Bezirken Mitte und Kreuzberg entstehen. Auf dem in den letzten Jahren zunehmend verwildernden Brachland des ehemaligen Mauerstreifens zwischen dem Springer-Hochhaus und der Heinrich-Heine-Straße ist nach Ansicht der Experten Platz für rund 1.500 Wohnungen, die etwa 3.000 Menschen eine neue Heimat bieten könnten. Das erklärte der Stadtplaner Carl Herwarth am Dienstagabend in der Kreuzberger St.-Michael-Kirche, wo er vor gut 100 Anwohnern die ersten Entwürfe für eine städtebauliche Rahmenplanung für "die Luisenstadt und die Wiedergewinnung eines Stadtteils" vorstellte.

Dass "es knapp 20 Jahre nach dem Mauerfall dauert, bis so eine Planung angegangen wird", wunderte auch den Baustadtrat von Mitte, Ephraim Gothe (SPD), wie er durchaus selbstkritisch bekannte. Doch was lange währt, soll endlich gut werden. Jetzt will man umso sorgfältiger zu Werke gehen: Quer zu allen in den letzten Jahren entstandenen Mentalitäten diesseits und jenseits der ehemaligen Mauer soll die Luisenstadt als eigenes Quartier neu gedacht werden - vom Springer-Hochhaus im Westen bis zum Bethanien im Osten, nördlich begrenzt von der Spree und südlich von der Ritterstraße. Das Herz dieses Stadtteils liegt eigentlich an der Kreuzung Heinrich-Heine-Straße Annen-Straße, wie man aus der Vogelperspektive unschwer erkennen kann.

Doch statt eines neuen urbanen Zentrums reiht sich hier bislang eine Bausünde der Nachwendejahre, wie das Heinrich-Heine-Forum, an die nächste - getoppt von einem Lidl-Markt mit Riesenparkplatz auf dem ehemaligen Grenzstreifen - ein Ensemble, das in seiner abgrundtiefen Hässlichkeit auch in jeder brandenburgischen Kleinstadt zu finden ist. "Wir sollten froh sein, dass es daneben noch keinen Drive-In und eine Autowaschanlage gibt", bemerkte Gothe ironisch. "Genau deswegen brauchen wir endlich eine verbindliche Planung." Und er hofft darauf, in ein paar Jahren Lidl zum Umzug in das Erdgeschoss eines Neubaus bewegen zu können.

Doch im Augenblick ist erst einmal eine Bestandsanalyse gefragt, die Herwarth den Anwohnern referierte. So basiert die Grundstruktur des Viertels auf dem Bebauungsplan von 1842 von Peter Joseph Lenné, die allerdings nur noch auf Karten zu erkennen sei. Beispielsweise wisse kaum jemand, dass die Dresdener Straße vom Kottbusser Tor bis weit nach Mitte hineinführe, erklärte der Stadtplaner. Mehrmals wurde das Viertel zerstört, zu etwa drei Vierteln im Februar 1945 durch alliierte Luftangriffe, "doch noch größere Schäden verursachte die Stadtplanung der 50er- und 60er-Jahre", wie Kreuzbergs Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Grüne) betonte. Hinzu kam 1961 die wie ein Zickzackband durchs Viertel laufende Mauer mit ihrem sogenannten Todesstreifen.

Heute ist das Quartier gekennzeichnet von einer sehr ungleichen Verteilung in fast allen Bereichen, berichtete Herwarth. So gebe es im Westen sehr viel Büroräume, in Osten fast nur Wohnnutzung. Besonders deutlich machte Herwarth mit einigen Fotos von heruntergekommenen Schulen den Kontrast zwischen öffentlichen und privaten Investitionen im Quartier. Dafür boome die private evangelische Gesamtschule in der Annenstraße. Da das Durchschnittsalter der Bewohner in den restaurierten Plattenbauten des Heinrich-Heine-Viertels 51 Jahre betrage, müsse man sich fragen, wie ein Stadtteil für Senioren und Kinder aussehen könne. Wie könnten zum Beispiel auch Parks allen Ansprüchen genügen?

Vor allem bei diesem Thema hofft Bürgermeister Schulz, einen Teil des Grenzstreifens als Grünanlagen erhalten zu können. "Die Entscheidung, ob und wie hier nun Wohnungsbau stattfinden wird, fällt man für die nächsten 100 Jahre", betonte er und schlug einen "städtebaulichen Vertrag" vor, um sich von den privaten Bauherren öffentliche Grünflächen finanzieren zu lassen.

Auch favorisierten sowohl Schulz als auch Gothe beim Wohnungsneubau eher die Orientierung auf Baugruppen, als weiter nur auf das "gehobene Wohnen" wie in den Fellini-Apartments nördlich der Bundesdruckerei zu setzen. Hier forderte Schulz den Senat zu finanziellen Zuschüssen auf, um auch gemischte Baugruppen "mit reinen Kostenmieten für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen" zu ermöglichen.

Denn im Augenblick entsteht auf der zum Bezirk Mitte gehörenden Seite der Dresdener Straße ein Neubau nach dem anderen, die allerdings nur Loftwohnungen im obersten Preissegment anbieten. Eingeworfene Fensterscheiben bis zum Teil hinauf in den zweiten Stock dokumentieren die Verdrängungsängste der angestammten Anwohner vor den "Neu-Luisenstädtern".

Die anschließende Diskussion war geprägt von einem großen Misstrauen, inwieweit man als angestammte Bevölkerung des Viertels wirklich mitreden dürfe. Und es entlud sich aufgestaute Wut, weil die Bauverwaltungen der Bezirke und des Senats innerhalb von sieben Jahren nicht mal zum Bau eines weiteren Zebrastreifens über die Heinrich-Heine-Straße in der Lage waren.

Doch der an diesem Abend charismatisch auftretende Gothe gab sich kämpferisch. Allein schon wenn er an die kommenden Auseinandersetzungen mit den Eigentümern um eine Spreeufer-Promenade zwischen Michael-Kirch-Brücke und Schillingbrücke denke, so der Baustadtrat von Mitte, "wird mir ganz angst und bange". Aber letztlich sei er optimistisch, denn "auch da ist vieles noch offen und muss eben durchgesetzt werden".

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!