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KOMMENTARESprengstoff für die Einheit?

■ Das Bonner Kabinett rührt an der Tarifautonomie in Ostdeutschland

Die Absicht der Bundesregierung, in Notfällen in Ostdeutschland Löhne unter Tarif zuzulassen, sei „Sprengstoff für die innere Einheit Deutschlands“, argumentieren Gewerkschaftsführer. Genau das jedoch ist der Kabinettsbeschluß von Dienstag nicht: Die „innere Einheit“, deren Sprengung beschworen wird — es gibt sie nicht in Deutschland.

Zum System der sozialen Sicherung Westdeutschlands gehört die Tarifautonomie ganz unzweifelhaft an zentraler Stelle dazu. Sie ist mit dem Nachkriegs-Wirtschaftswunder Westdeutschlands in über 40 Jahren entwickelt worden. Daß die Bonner Kabinettsbeschlüsse ausgerechnet auf Vorschläge aus dem Ministerium Möllemanns kommen, eines erklärten Gegners der Tarifautonomie, macht die reflexartige Abwehrhaltung in den Gewerkschaften verständlich. Nur den real existierenden Schwierigkeiten in Ostdeutschland kommt man damit nicht näher.

Die schnelle Angleichung der Ostlöhne an das Westniveau, die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gemeinsam zu verantworten haben, bringt de facto etliche Unternehmen in große finanzielle Schwierigkeiten. Die Produktivität nämlich ist nicht im gleichen Maße gestiegen — im Gegenteil: Die Schere zwischen Lohnkosten und Produktivität klafft zunehmend weiter auseinander.

Der Beschluß der Bundesregierung sieht nun nicht vor, daß einzelne Unternehmer gesetzlich erlaubtes Lohndumping betreiben können. Für maximal zwei Jahre darf in einem „eng eingegrenzten Notfall“ eine Betriebsvereinbarung den Branchentarifvertrag außer Kraft setzen. Beide Tarifpartner haben bei der Feststellung eines derartigen Notfalls ein Vetorecht. In Ostdeutschland, wo viele Betriebe entweder in einer Umbruch- oder der Gründungsphase stecken, könnten zwei Jahre mit niedrigeren Lohnkosten durchaus einen entscheidenden Unterschied machen: den zwischen Weiterexistenz und Konkurs.

Öffentliche Diskussionen wie diese, in der lediglich das Schlagwort Tarifautonomie einerseits gegen das Schlagwort Flexibilität andererseits ins Feld geführt werden, gehen an der ostdeutschen Realität zunehmend vorbei. Deutschland nach der Vereinigung ist eben nicht einfach eine erweiterte Bundesrepublik West. Das Denken in den einfachen Kategorien der Besitzstandswahrung greift deshalb zu kurz. Und überläßt langfristig die Gestaltung der ganzen Bundesrepublik den Unternehmern. Donata Riedel

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