Sport in der Schule: Angst vorm Schwitzen
Die Annahme von einem natürlichen Bewegungsdrang ist passé. Weil Kinder ihre Neugier anderswo stillen, sind besondere Sportpädagogen gefragt.
"Wie soll das denn gehen?" Die meisten der gut 30 Männer und Frauen in der Sporthalle können sich nicht vorstellen, dass funktioniert, was der Übungsleiter von ihnen will. Paarweise sollen sie sich ein paar Meter voneinander entfernt aufstellen. Sie halten eine Gardinenstange von etwa einem Meter Länge, die sie mit beiden Händen an den Enden greifen. Mit der Stange sollen sie sich einen Gymnastikball gegenseitig zuspielen. Das klappt zunächst gar nicht. Irgendwann funktioniert es dann doch ganz gut. "Jetzt machen wir das Gleiche mit einem Tennisball", sagt der Übungsleiter. "Also irgendwann ist wirklich mal gut", sagt eine drahtige Frau um die 50. Als ihr und ihrem Partner die Übung endlich gelingt, lächelt sie und will gar nicht mehr aufhören. "Das sind Erfolgserlebnisse, die motivieren", sagt Rainer Voigt nach der Übungsstunde. Er ist Sportlehrer an einer Berliner Hauptschule. An diesem Tag hat er einen Workshop zur Lehrerfortbildung geleitet, den der Landessportbund für Grundschullehrer organisiert hat. Thema: Koordinationstraining.
82 Prozent der Kinder in der fünften Klasse können in einem selbst gewählten Tempo 10 Minuten ohne Pause laufen.
95 Prozent können über eine umgedrehte Langbank vorwärts oder rückwärts balancieren.
62 Prozent der Kinder können eine Rolle vorwärts über einen quer gestellten, 70 Zentimeter hohen Kasten ausführen.
72 Prozent der Kinder können
10 Sekunden lang seilspringen.
95 Prozent der Kinder können mit dem Fahrrad ein Quadrat von 40 Meter Seitenlänge umfahren.
Der Sportunterricht an den Grundschulen hat nicht den besten Ruf. Das liegt vor allem daran, dass der im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) organisierte Sport gegen deren Bewegungsangebot wettert: Zu wenig ausgebildete Sportlehrer arbeiteten in der Primärstufe des Schulsystems. Mehr als die Hälfte des Sportunterrichts an Grundschulen werde von "fachfremden Lehrkräften" gestaltet, so steht es in der Schulsportstudie, die der DOSB 2006 vorgestellt hat. "Kein Wunder", sagt dazu Susann Werner, die die Workshops organisiert hat, "das liegt am Klassenlehrerprinzip. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Lehrer schlechten Sportunterricht machen." Zwar kennt auch sie Berichte über Lehrer, die Schüler sinnlos Runde um Runde laufen lassen. Doch die große Nachfrage nach Fortbildungen zeige, dass das Fach Sport auch von den "normalen Klassenlehrern" ernst genommen wird.
Dabei geht es schon lange nicht mehr um Übungen am Reck. Es geht um Bewegungskompetenz. Dietrich Kurz, Professor für Sportwissenschaft an der Universität Bielefeld, versucht, den 300 Workshopteilnehmern in Berlin zu erklären, warum so viele Kinder Bewegungsmuffel sind. "Früher haben wir geglaubt", sagt er, "dass es einen natürlichen Bewegungsdrang bei Kindern gibt. Heute gehen wir davon aus, dass es nur so etwas wie eine natürliche Neugier gibt." Und während die Neugier früher auf dem Schulweg, beim Spielen und Toben im Freien gestillt worden sei, reiche dafür heute ein Computerspiel aus.
Die Folge: Lehrer an Grundschulen müssen Sportunterricht für eine überaus heterogene Gruppe von Kindern anbieten. Kurz hat eine Querschnittstudie in Nordrhein-Westfalen betreut, aus der unter anderem hervorgeht, dass 7 Prozent der Kinder, die am Beginn der fünften Klasse stehen, so gut wie gar nicht mit einem Ball umgehen können. Sie können weder Werfen und Fangen, beherrschen das Dribbeln mit der Hand nicht und können sich einen Ball auch nicht mit dem Fuß zupassen. In Großstädten und dort in Gegenden, in denen vor allem sozial Schwächere leben, ist der Anteil derjenigen, denen bestimmte Bewegungskompetenzen fehlen, noch weitaus höher. "Diesem Problem müssen wir uns stellen", redet Kurz den Grundschullehrern ins Gewissen: "Das ist unsere Aufgabe." Kurz spricht davon, dass man allen Kindern die Möglichkeit der "sozialen Teilhabe" geben müsse. Wo Förderbedarf gesehen werde, müsse individuell auf jeden Schüler eingegangen werden.
Dass das nicht einfach ist, bei zwei bis drei Sportstunden in der Wochen schier unmöglich, weiß Kurz. Er hat aber eine einfache Idee. "Geben Sie den Kindern doch auch einmal Hausaufgaben im Sport auf!", rät er. Und in Elterngesprächen müsse man doch nicht zwingend nur über das Lesen, Schreiben und Rechnen sprechen. Kurz: "Sagen Sie den Eltern einfach mal, welche Probleme die Kinder im Sportunterricht erkannt haben, auch wenn die sich erst einmal gar nicht dafür interessieren." Der Sport hat es nicht selten schwer in der Konkurrenz mit den kognitiven Fächern.
Auch der Umbau der Bildungslandschaft mit einem vermehrten Angebot an Ganztagsschulen und dem Abitur nach zwölf Schuljahren machen den Sportwissenschaftlern Sorge. Für Training am Nachmittag in einem Sportverein bleibt oft keine Zeit mehr. Der DOSB wirbt für eine verstärkte Zusammenarbeit der Sportvereine mit den Schulen. Kurz verzieht bei diesem Thema das Gesicht: "Wenn die nur mehr allgemeine Bewegungsangebote hätten." Die meisten Klubs engagieren sich vor allem deshalb an den Schulen, weil sie Nachwuchs für ihre Sportarten rekrutieren wollen. Es geht aber um sinnvolle "Bewegungsangebote". Das sieht auch Nils Neuber, Professor für Sportwissenschaft an der Uni Münster so. Er beschäftigt sich seit drei Jahren mit den Chancen des Sportunterrichts an Ganztagsschulen. Neuber warnt vor einer "Abbildpädagogik, die wettkampfsportliche Standards eins zu eins auf die Schule überträgt".
"Da hat sich sowieso einiges geändert", sagt Rainer Voigt, der die Grundschullehrer in seinem Workshop mit immer neuen Koordinationsübungen überrascht. "Wenn es schönes Wetter ist und du sagst zu den Jungs: Wir gehen raus und spielen Fußball, dann winken die nur ab. Es könnte ja sein, dass sie ins Schwitzen kommen." Auch an der Hauptschule, an der er unterrichtet, geht es darum, die Kinder erst einmal in Bewegung zu bringen. "Dass ich nicht eine dreiviertel Stunde lang Bälle mit dem Joghurtbecher auffangen lassen kann, ist auch klar." Voigt spielt auf eine seiner Koordinationsübungen an, die er eben vorgeführt hat.
Die Lehrer haben sich da bei jeder Übung gefragt, wie die Kinder reagieren würden. "Wenn den Schülern die Bälle verspringen, dann herrscht doch nur noch Chaos in der Halle", meint eine. Ein anderer hält die Übung mit den Stöcken für nicht tauglich: "Die gehen sofort damit aufeinander los und spielen Kung-Fu." Ein Lehrer, der in Berlin-Moabit fast reine Migrantenklassen unterrichtet, hat dagegen mit den Stangen gute Erfahrungen gemacht. Er ist als Musiklehrer ausgebildet. "Ich finde es sogar einen Vorteil, dass ich kein Sportlehrer bin", sagt er. "Ich kann unvoreingenommen in die Stunden gehen." Er lässt, so erzählt er, auch mal einen Kasten aufbauen und beobachtet einfach, wie sich die Kinder darüber hinwegbewegen. Wie, ist ihm nicht so wichtig. Hauptsache, sie bewegen sich.
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