: Spontaneität ist eine Krankheit
■ Auch nach dem Ende der zu Tode bürokratisierten Sowjetunion läuft ohne Passierschein und Antragsformular gar nichts/Journalisten haben's weiter schwer
Moskau (taz) — Präsident Gorbatschow war gerade von seinem verlängerten Zwangsurlaub auf der Krim zurückgekehrt, bleich und noch etwas wortkarg. Da geschah etwas Unerhörtes. Ausdrücklich bedankte er sich bei den ausländischen Presseleuten für die Unterstützung, die sie ihm und der russischen Regierung während der „August-Ereignisse“ hatten zuteil werden lassen. Namentlich zitierte er die BBC und Radio Liberty, aber auch für die vielen anderen, namenlosen Wahl- oder Karrieremoskauer fand er anerkennende Worte. In der ghettoisierten Gemeinde schreibender Ausländer klang das wie eine Aufbruchfanfare. Der Herr des Hauses plädierte nicht nur im großen Maßstab für Enteisung und Abrüstung, er vollzog den ersten Schritt zur Versöhnung oder — weniger pathetisch — Normalisierung gar im erkleinen. Wie lange hatte man darauf schon gewartet! Doch den Worten folgten — wie immer — keine Taten. Auch das kein Anlaß zum Verzagen. Denn zwischen dem Gewahren eines Problems und seiner Bewältigung gelten in Moskau eben andere Maßstäbe. Das wichtigste hatte man hinter sich: die Artikulation des Problems. Es gab es also.
Mittlerweile sind sieben Monate verstrichen, die UdSSR hat ihren Geist — pardon — ihre völkerrechtliche Existenz aufgegeben, Altpräsident Gorbatschow versucht sich als Berater und Kolumnist bei ausländischen (!) Blättern, und die Demokraten machten es sich im „Weißen Haus“ kommod. Und da sollte nicht auch ein Brosame für Journalisten abfallen? Nein, offiziell jedenfalls. Läßt man einmal die nicht intendierte Gunst des Chaos außer acht.
Ohne Antrag, Propusk (Passierschein) oder „Aphrodisiakum“ fällt das Bewegen immer noch schwer. Das russische Außenministerium möchte weiterhin über alles im Bilde sein. Plant man eine Reise nach Georgien, Nichtmitglied der neuen Staatengemeinschaft, will es im voraus wissen, wann und wie man (zurück) reist und wo man zu nächtigen gedenkt (mit wem finden die Parallelorgane im Bedarfsfall wohl alleine raus). Das alles mindestens 48 Stunden vor Reiseantritt. Natürlich besitzt diese Vorabinformation heute mehr rituellen Charakter. Denn wer weiß schon, wie es jenseits der Grenze aussieht und ob und welches Hotel in Stepanakert noch steht?
Alle anderen, ob Kirgisien oder Tadschikistan, rangieren demnach unter der Rubrik „nichtrussisches Inland GUS“. Jetzt male man sich aus, auch die anderen Staaten entwickelten ein ähnlich lückenloses Informationsbedürfnis, ohne über einen eigenen Faxanschluß zu verfügen, um die Anträge überhaupt zu empfangen. Eine zermürbende Vorstellung. Grundregel bisher: zeitversetzt mindestens zweimal schicken, um den Vorteil des Schichtwechsels auszunutzen. Noch fehlte den Neulingen die Zeit, doch schließlich stammen sie alle aus demselbem Stall. Nachdem sich die Staubwolke der Jelzinschen Entmottungsankündigung gelegt hatte, ergab die Bestandsaufnahme im Moskauer Außenministerium: Kaum einer hatte seinen Platz verloren. Man war auf- oder quer- und in seltenen Fällen auch abgestiegen, aber das war's dann auch schon. Dabei hatten die eifrigen Angestellten des Außenministeriums schon am ersten Tag des Putsches Listen mit Mitarbeitern zusammengestellt, die der KPdSU seit längerem den Rücken gekehrt hatten. Ihrer wollte man sich entledigen. Dann kam es anders. Der dritte Tag brachte das Scheitern, und die gleichen Herrschaften resolutierten mit der gleichen Inbrunst die Auflösung der Parteizellen im Ministerium, berichtete die Zeitung 'Kommersant‘. Pars pro toto. Parallele Vorgänge lassen sich auch in anderen Ministerien verfolgen.
Nach wie vor umgibt Moskau eine unsichtbare Mauer. Ein Ausflug ins Grüne ist kein Vergnügen, denn 50 Kilometer vom Stadtzentrum endet der Bewegungsradius. Drüber hinaus nur mit Antrag (prozedere s.o.) — Spontaneität ist eine anarchistische Krankheit. Aber selbst mit Erlaubnis muß es nicht unbedingt klappen. Denn bis heute wachen Verkehrspolizisten über die Ausfallstraßen Moskaus. Einige davon sind geheim. Das weiß man spätestens dann, wenn man zurückgeschickt wird. Auf das Random-choice-Verfahren ist auch kein Verlaß, die gelben Autonummern der „Delinquenten“ erleichtern den Polizisten den Zugriff. In diesem Fall mag der Antrag bearbeitet worden sein, die Genehmigung liegt der Polizei nur nicht vor. Nun heißt es Kontakt aufnehmen mit den „zuständigen Stellen“... Am Wochenende... oder nach Dienstschluß... Manchmal antwortet tatsächlich jemand am anderen Ende. Ob das der Spätdienst des Außenministeriums ist? Waldspaziergang oder „Spionageabsicht“ lägen, wenn erforderlich, dicht beieinander und noch immer im Definitionsmonopol einer nicht ortbaren grauen Eminenz.
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