Spielfilm „Cold War“: Wider die Depression
Paweł Pawlikowskis Spielfilm „Cold War“ ist ein filmisches Ereignis der Extraklasse. Verdichtung ist sein Markenzeichen.
Wenn ein Film so sehr Everybody’s Darling ist wie „Cold War“, der im deutschen Zusatz-Geo-Untertitel überflüssigerweise „Der Breitengrad der Liebe“ heißt (im polnischen Original schlicht „Zimna wojna“), sollte man grundsätzlich stutzig werden. Festivalhit, Film der Superlative: Beste Regie in Cannes, mehrfach nominiert für den Europäischen Filmpreis und großer Eröffnungsfilm, beim Filmfestival in Cottbus (6.–11. 11.) etwa oder der in Berlin gezeigten Auswahl alles Sehenswerten aus Cannes, Venedig, Locarno & Co, dem Festival „Around the World in 14 Films“ (22. 11.). Quasi logischerweise ist „Cold War“ auch der aktuelle polnische Oscar-Kandidat, denn mit „Ida“ (2014) war es Paweł Pawlikowski bekanntlich erstmals gelungen, Polen in die Liste der Academy Awards für den besten fremdsprachigen Film einzutragen.
Everybody’s Darling – doch man kann getrost jede Zurückhaltung und Besserwisserei ad acta legen und voll Enthusiasmus ins persönliche Herbstkino-Rennen gegen die Tristwetter-Depression gehen: Wahrlich, es ist Vorfreude geboten auf ein filmisches Ereignis der Extraklasse, dessen einziger Makel seine Kürze ist. Man könnte diesem Reigen des jahrzehntelangen Liebesringens zweier Menschen nämlich, diesen der Zeit, dem Ort, der Welt und ihrer Politik trotzenden Obsessionen in unterkühltem Schwarz-Weiß noch Stunden, ja Monate folgen. Diesem hingebungsvollen Singen und Tanzen, Zuhören und Zuschauen inmitten politischer wie ideologischer Verhärtung.
Den unterdrückten Gefühlsekstasen in einer Epoche, die den Winter im Namen trägt, und die es erzwingt, jedes Sentiment als künstlerische Entladung und Willensakt des physischen Seelenausdrucks zu gestalten, der freilich dennoch immer gerahmt bleibt vom politästhetischen Formenspektrum aka Möglichkeitsraum, den die so polaren Jahrzehnte zwischen Ost und West, zwischen Volkseigentum-Folklore hüben und Jazzboheme-Ennui drüben hergeben.
Große Liebe und tiefe Depression
„Cold War“ ist ein Film, der von der Liebe handelt, der großen Liebe, und damit auch von der Depression, der tiefen Depression. „Cold War“ ist dabei ein Film wider die Depression, wenngleich er den Schmerz nicht verschweigt. Alles andere als das. Er entwickelt eine Sogkraft, die ebenso unzähmbar ist wie die Sehnsucht, von der erzählt wird, jener zwischen dem Komponisten Wiktor und der Sängerin Zula, im Polen (später Westeuropa) der Nachkriegszeit. Die schlichten 85 Minuten, die sich in der Tat schmal ausnehmen im Feld aktueller Kino-Dinosaurier-Manie, tun dabei nur ihr Gutes: Die Verdichtung wird nachgerade zum Markenzeichen des Films. Sie belebt eine vergessene alte Kunst des Kinos wieder – die Kunst des filmischen Erzählens über ein ausgewogenes Verhältnis von Einstellungsintensität und Montage – und erhebt sie zu einem Akt höchster Präzision.
Pawlikowski und sein Cutter Jarosław Kamiński gehen dabei subtil vor, selektiv und gleichzeitig fokussiert, ruhig, sogar gelassen oft, aber kraftvoll-impulsiv. Besonders in den Tanzszenen, bei denen die Mazurka auch das Schnitttempo vorzugeben scheint. Das Stampfen der Stiefel und absatzstarken Volkstanzschuhe kommt wie ein Paukenschlag. Übergänge werden zum medialen Gesamtkunstwerkereignis. Auf Pointen wird dennoch weitgehend verzichtet, vielmehr werden über die gesamte filmische (und Film-)Zeit hinweg diverse Ebenen (Liedtexte und Handlung zum Beispiel) zu einem mehrschichtigen Verweissystem verwoben.
„Cold War“. Regie: Paweł Pawlikowski. Mit Joanna Kulig, Tomasz Kot, Cédric Kahn u. v. a. Polen/Frankreich/UK, 84 Min.
Wenn Zula – dargestellt von einer Schauspielerin, Joanna Kulig, deren Gesicht sich einbrennen wird, auch in die digitale Geschichte der einstigen Zelluloidkunst –, wenn Zula also bei ihrem ersten Auftritt, beim Vorsingen vor Wiktor, eine Romanze zum Besten gibt, die sie aus einem in ihrem Dorf vorgeführten Russenfilm kennt („Herz, du suchst keinen Frieden. Herz, es ist schön am Leben zu sein. Danke, mein Herz, dass du so gut zu lieben weißt“), dann ahnt man bereits, wie sehr dieser Frau ihre naturbelassene Emotionalität zum Verhängnis werden wird. „Zwei Herzen, vier Augen – ojojoj –, die Tag und Nacht weinten“, heißt es in einem anderen, wunderschönen Lied. Wiktor (Tomasz Kot), der im noch kriegsderangierten Polen ein Laienensemble zusammenstellt und dabei wie ein Volkskundler landein, landaus Stimm- und Liedaufzeichnungen macht, registriert es, nach außen ungerührt, innerlich berührt. „Schwarze Äugeln, ihr weint, weil ihr euch nicht treffen könnt“.
Auch das eine Verheißung, die treffend für das Dekaden-Verhältnis von Zula & Wiktor sein wird und obendrein elegant eingefädelt ist: im Rahmen des Castings nämlich für jenes Volksensemble im Polen von 1949, das in einem verlassenen Herrenhaus auf dem Land Einzug nimmt. Wiktor formt die Truppe und macht sie zu einem Erfolgskulturpaket; die Provinzler erobern die Hauptstadt, im Warschau von 1951 (mit riesigem „Partei – Volk – Vaterland“-Banner über dem Volkskunsttempel) ertönt das einst von einer zarten Mädchenstimme vorgetragene Lied über die zwei Herzen und vier Augen bereits als pompöser Folklorehit. Stimmgewalt als Selbstermächtigung des Volkes, Kunst als Repräsentation seiner „Schätze“, sehr zur Freude des Kulturbeauftragten der Partei Kaczmarek, der das Kollektiv anführt und zu volksrepubliksweiten Höchstleistungen peitscht. „Das ist der schönste Tag meines Lebens“, sagt er lobend (und es vielleicht sogar ernst meinend) zu Wiktor und dessen Kollegin Irena, die, angeekelt vom nunmehr hochstalinistischen Pomp und Kitsch lieber mit Wiktor türmen würde. Der aber anderes im Sinn und eine andere im Visier hat.
Etliche Brisen Spontanität
Das eigentlich brisante Dreieck bilden aber Wiktor, Zula und Kaczmarek, dessen Funktion als Kulturbürokrat zu seinem Wesen wird. Schamlos nützt er das Dossier aus, das in Zulas Akten zu finden ist, und erzwingt Heirat und Kind mit ihr. Sie hätte den Vater ermordet, heißt es da. „Keine Angst, er hat es überlebt“, gesteht diese Wiktor, „hat mich nur mit meiner Mutter verwechselt und ich hab’ ihm den Unterschied gezeigt, mit dem Messer.“ Zula ist eine Figur, die trotz sozialismustypischer Biografie-Zwänge dem patriarchalen Chauvinismus Widerstand leistet, als Frau mit Talent, Verstand, Durchsetzungskraft und Chuzpe. Und etlichen Brisen Spontanität. Doch wird das dauernde Dagegenhalten habituell und kratzt an der Liebesfähigkeit.
Und auch Wiktor, der den kulturpolitischen Konjunkturen Volkspolens ebenfalls trotzt – Agrarreform & Weltfriedensgefährdung, Proletariat & Nation, die neuen Themen auf der Tagesordnung –, verliert über die Jahre die Kraft und wird, allerdings erst, nachdem er in den kapitalistischen Westen geht, zum schweigsamen Zyniker.
Auch wenn der Schwerpunkt auf dem Osten liegt – und „Cold War“ damit nahtlos anschließt an „Ida“, der die polnischen 1960er Jahre zwischen Sozialismus, Katholizismus und Antisemitismus thematisierte –, seziert Pawlikowskis Film, das ist seine Stärke, am Ende beide politischen Blöcke im Kalten-Kriegs-Europa. Jenes Chronotopos, dessen Kulturen er wie kein anderer heutiger Regisseur in all ihrer Atmosphärenhaftigkeit wahrnimmt und in Kino übersetzt. Ohne Moralzugabe zeigt er unerbittlich auf, wie sehr sein eigenes Leben von Heimat und Exil handelt, das seiner Figuren, unser aller Leben. Wie Fische im stets neuen Wasser leben wir. Von außen kommt die Entfremdung, über die Jahre – und quer durch die Systeme.
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