: Spaßguerilla auf dem Weg in den Bundestag
■ Der Theaterregisseur Christoph Schlingensief, Spiritus rector des Vereins Chance 2000 alias „Partei der letzten Chance“, ist als Medium seiner Kunst zur eigentlichen Botschaft avanciert
„Der Mann ist Kult“, titelte die Schweizer Zeitschrift Musik & Theater in ihrer Juni-Ausgabe. „Schlingensief – der Rächer der Enterbten“, entdeckte Theater heute einen Monat zuvor. Er selbst indessen versichert: „Eigentlich sehe ich nett aus, ich kann mich unterhalten, ich kann auch höflich sein.“ Dann aber will er doch wieder einen „Hexenkessel von Volk“ anrühren oder fordert: „Wenn man nicht bereit ist, alles zu geben, ist man für immer verloren.“
Christoph Schlingensief ist 37 Jahre alt und katholisch. Seit seinem achten Lebensjahr macht er Filme, seit fünf Jahren Theater, seit vier Monaten Politik mit der Chance 2000. Spaßguerilla auf dem Weg in den Bundestag. Daß die beteiligten Künstler und Laien im gleichen Maße an die Sache glauben, wie sie eben nicht wirklich wissen, wie ernst es wem mit was gerade ist, gehört zur Idee der Sache. Nur im Grenzbereich zwischen Sein und Schein lassen sich Zustände provozieren, die sich dem rationalen Zugriff entziehen.
Ob der Film „Terror 2000“, der „Talk 2000“ auf RTL, Sat.1 und ORF oder „Chance 2000“ – messianisch wird Verdrängtes ans Licht gehievt, was im pubertären Nazi- Splatter begonnen und über die zwanghafte Mitteilung eigener Privatheiten zur Selbstbewußtseinskampagne für verdrängte Gesellschaftsschichten geführt hat. Die künstlerische Entwicklung des Christoph S. ist auch ein politischer Bildungsroman. Und das um so mehr, seit er als Medium seiner Kunst zur eigentlichen Botschaft avanciert ist.
Christoph Schlingensief sei ein „begnadeter Entertainer“, sagt auch Volksbühnenchef Frank Castorf, und in der Berliner Volksbühne wurde er auch erstmals selbst auf die Bühne geschickt, um dem Publikum seine Trash-Ästhetik zu erklären. Er legte direkt los mit Geständnissen aus seiner emotionalen Adoleszenz. Vielleicht wurde auch das nicht verstanden, aber da war doch einer, der sich fast zerriß bei der Bemühung, Erwartungshaltungen zu unterlaufen, um zu „beweisen, daß er existiert“.
Als Erweckungskünstler führte Schlingensief vor zwei Jahren in Berlin dann einen rituellen Mord an einer Kanzlerpuppe durch und forderte auch auf der documenta X: „Tötet Helmut Kohl“, was ihm einen Besuch bei der Kasseler Polizei eintrug. Dem Beuys in sich immer mehr vertrauend, entwickelte er sich vom selbstquälerischen Berserker zum charismatischen Demagogen, der es sich schon wieder leisten kann, vor laufenden Kameras harmlos zu schnurren. Und der jetzt auch beginnt, in eigener Sache politisch zu handeln. Den Aufruf an alle arbeitslosen Deutschen, sich am 2. August im Wolfgangsee zum Konzeptbaden einzufinden, zieht er auf seiner Homepage nämlich zurück, um eine Verhaftung bei der Einreise nach Österreich zu vermeiden: „Natürlich kann jeder am 2. August um 16 Uhr völlig privat und freiwillig im Wolfgangsee baden gehen! Auch ich werde dann völlig privat und freiwillig dort baden gehen wie z.B. Helmut Kohl und seine Freunde! Ich muß nur leider aus rechtlichen Gründen immer wieder darauf hinweisen, daß Chance 2000 keine Verantwortung für diese Unternehmung übernehmen kann und darf! Jeder ist für sich selbst verantwortlich!“
Womit Schlingensief dann aber doch wieder ganz bei sich wäre. Auf einen wie ihn kann man nicht bauen. Aber nach dem 27. September heißt es vielleicht: Er hat Vorschläge gemacht.
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