: Spaß am Horror
Ein Beitrag zur Ästhetik des populären Schreckens ■ Von Geoffrey O'Brien
Die Ursprünge des Kino- Horrors sind nicht nur eine Fußnote wert: Sie sind von entscheidender Bedeutung für ein Genre, das sich durch die Wiederholung alles dessen, was es schon einmal war, definiert. Durch alle Wandlungen und Kataklysmen – Aufstieg und Fall und Wiederkehr des Werwolfs, die sieben Leben Draculas, die Invasionen und Verwandlungen der Außerirdischen, dämonenbesessene Kinder und Psychokiller, die expressionistischen Schatten der 20er und 30er Jahre und die zerplatzenden Gedärme der 70er und 80er – immer scheinen wir dort anzulangen, wo alles anfing: beim offenen Sarg und dem Totenschiff voller Ratten, bei den unheilverkündenden Blitzen und dem Grinsen des Dämonen. Wer viele Horrorfilme sieht, der sieht in gewissem Sinne denselben Film immer wieder: Sie werden ebenso von ihrer Vergangenheit angezogen, wie ihre Figuren immer wieder in die uralte Krypta zurückkehren müssen. Es ist die ewige Wiederkehr zur Stätte eines besonderen und krassen Schocks: Eine spukhafte Maske, die plötzlich aus der Dunkelheit aufscheint. Der Rest: Ornament und Variationen des gleichen Themas – noch mehr Masken oder größere Masken oder bedrohlicher wirkende Masken.
Die Geschichte des Horrors im Kino wäre dann einfach eine Galerie solcher Masken, auswechselbare Symbole des Unsichtbaren, aussprechbarer Ersatz für das Unaussprechliche. Die Filme nehmen den Tod und das Böse und setzen handhabbare und letzten Endes liebenswerte Travestien an ihre Stelle: Der wahnsinnige Doktor von der Market Street, das Monstrum im Keller, ein Schrecken ohne Antlitz. Das ist jedoch eine riskante Angelegenheit: schon das Spiel mit Grausamkeit und Furcht, mit Morbidität und Korruption birgt die Gefahr, von ihrer Aura erfaßt zu werden. Alte Horrorfilme – die exaltierten Beiträge von Regisseuren wie F. W. Murnau oder Carl Dreyer, aber auch die behagliche Nostalgie um Karloff und Lugosi, die ihnen einen Platz neben Shirley Temple und Fred Astaire einräumt – mögen nachgerade klassisch werden, aber dennoch entzieht sich das Genre hartnäckig der Respektabilität. Der Horror ist kein Horror, wenn er nicht mit Impulsen jenseits der Zivilisation kokettiert, mit der Drohung (oder dem Versprechen), selbst die soeben erst gezogenen Grenzen zu überschreiten.
Die Oberfläche mag noch so raffiniert gestaltet sein – dem Horror muß immer die Möglichkeit echter Drohung, echter Barbarei zu eigen sein. Zumindest gerüchteweise ist dem Zuschauer bekannt, daß der Horror über unangenehme Tiefen verfügt, daß er in seinen niederen Bereichen (in immer garstigeren Bildern von Korruption und Kannibalismus, Opferritualen und psychotischer Raserei) an eine potentielle Beziehung zur Realität grenzt: Indem er sie darstellt, schürt oder sogar auslöst – wie vor einigen Jahren im Falle der mexikanischen Verehrer eines Kannibalen-Kults, die ihren Anhängern John Schlesingers Voodoo-Melodram „Die Gläubigen“ vorführten. (Ob es nun tatsächlich kommerziell vertriebene „snuff“-Filme gibt oder nicht [Filme, in denen die Opfer tatsächlich vor der Kamera ermordet werden] –, die Möglichkeit solcher Filme gehört einfach zu dem geläufigen B-Film-Motiv vom wahnsinnigen Künstler, der seine Modelle umbringt. Obwohl das Bauchaufschlitzen in „Snuff“ (1976) gespielt war und die wütenden Proteste gegen den Film teilweise durch die Verleiher selbst organisiert wurden, bleibt festzuhalten, daß eine ganze Reihe europäischer Produktionen wie „Cannibals Holocaust“ und „The Emerald Jungle“ daraufhin prompt das Hinmetzeln von Tieren in das Spektrum ihrer Gruseleffekte aufnahmen.) Die beunruhigende Möglichkeit, der Scherz könne zu weit gehen, bleibt selbst dem plumpsten Beispiel des Genres erhalten. Die frühe Filmindustrie arbeitete vor allem darauf hin, die Filme bekömmlich zu machen, ihre Inhalte zu säubern, während die Kinos selbst sauberer wurden und eine bessere Beleuchtung erhielten. Wenn die Assoziationen an den Flohzirkus verschwanden, konnte das Kino ein sensibleres und respektableres Publikum finden. Der Schlüsselbegriff hieß Aufstieg: Aufstieg aus der Unterwelt der Varieté-Attraktionen in neue Gefilde emotionaler Erhebung, epischer Breite, selbst religiöser Inspiration. Von Anfang an gab es jedoch Menschen, die der entgegengesetzte Mythos fesselte, der des Abstiegs – in dem der Zuschauer nicht in eine bessere Welt entführt wurde, sondern eher in die dunklen Bereiche einer bösen Welt zurückkehrte, die fremd war und zur gleichen Zeit von Grund auf vertraut. Es war ziemlich gleichgültig, ob dieser dunkle Ort ein Dschungel voller Alligatoren war, das geheime Hauptquartier eines orientalischen Wahnsinnigen oder das Innerste eines ägyptischen Gräber-Labyrinths. Der Bestimmungsort übte magnetische Kraft aus, und es fehlte nie an Menschen, die halb in Trance angezogen wurden, wie die hypnotisierte Madge Bellamy in „White Zombie“, die Bela Lugosis satanischer Zuckerrohrmühle nicht widerstehen kann.
Der Zuschauer gibt seinen Willen auf. Sein geheimes Entzücken besteht darin, in die Falle zu gehen, in seiner Unfähigkeit, den Bildern zu entkommen. Er ist Teil eines ungezügelten Voyeurismus, der die Atmosphäre der Jahrmärkte bewahrt, auf denen die ersten Filme gezeigt wurden. Der Jahrmarkt ist die symbolische Heimat, zu der die Horrorfilme zurückkehren, im „Kabinett des Dr. Caligari“ und dem „Mord in der Rue Morgue“, bei „Blaubart“ und „Strangers on a Train“. Dies zeigt sich auch fern der Leinwand im karnevalsähnlichen Rummel der Produzenten und Verleiher, in der immergleichen Tirade der Anreißer: „Sie erleben die scheußlichsten Geheimrituale, die jemals vollzogen wurden!“ „Der Teufelsgott erhebt sich und hinterläßt eine Spur verstümmelter Leichen!“ „Eine ganze Stadt badet in menschlichem Blut!“
Die Kultur des Horrors besteht nicht nur aus Filmen, sondern in ebenso großem Maße aus Werbung, Verleihgags und Folgeprodukten. Die Werbung für Horrorfilme hebt nur selten die besondere Qualität des Drehbuchs oder der Darstellung oder der Produktion hervor. Das hätte schon einen zu starken Beigeschmack von freier Wahl; es würde implizieren, der Verbraucher träfe eine rationale Entscheidung. Die Werbung suggeriert vielmehr einen obskuren Imperativ. Du mußt den Film sehen. Er hat auf dich gewartet; ihm mußt du dich stellen, sonst wird dich auf ewig eine Ahnung des Schreckens verfolgen, dem du nicht ins Auge zu sehen wagtest. Dieser Horror eines Films, den man zu sehen nicht wagte, ist stärker als alle Horrorszenen in den Filmen selbst. Unbehaglich grenzt er an den echten Schrecken, den die Filme durch ihre Pseudoschrecken ersetzen.
Der unvergängliche Kirmesanreißer verkauft Eintrittskarten für eine Welt vor Erfindung des Films, für die Welt lebendiger, faßbarer Schrecken: Als beherbergten die Filmbilder reale Monstrositäten so wie die Wachsfiguren in „Mystery of the Wax Museum“ und „House of Wax“, in denen die Leichen von Mordopfern stecken. Ein besonders beliebter Werbetrick der 50er und 60er Jahre waren düstere Warnungen und Angebote medizinischer Hilfe für alle, die dem Spektakel nicht gewachsen wären: „Warnung! Wir übernehmen keine Verantwortung, wenn Sie nicht mehr schlafen können!“ (Diese implizite Drohung setzte der B-Horrorfilm-König William Castle in die Realität um; seine kruden Methoden – Geister an Drähten, Sitzplätze unter Strom – verliehen den Kinos die Atmosphäre einer Geisterbahn im Vergnügungspark.)
Die komische Fiktion, der Unterhalter müsse die Verantwortung dafür ablehnen, daß das Kinoschauspiel jederzeit über seine Grenzen treten und unvorhersehbaren Schaden anrichten könnte, entsprach einer langen Reihe von Filmsituationen: Der ausgebrochene Killerleopard, King Kong, der seine Ketten zerbricht, oder (in dem italienischen Film „Dämonen“) Monster, die aus der blutbespritzten Leinwand eines Kinos hervortreten.
Hinter der Fabel der gefährlichen Show findet sich die beunruhigendere (weil plausiblere) Fabel des verrückt gewordenen Schaustellers. Bestimmte Szenen – einer der Hexerei Verdächtigen wird die Zunge herausgerissen, Kannibalen am Amazonas unterwerfen Touristen peinlich genau simulierten Verstümmelungen – scheinen die Frage auslösen zu sollen: Was für Menschen sind zu so etwas fähig? Der reisende Hypnotiseur, der seine Opfer wirklich zersägt, der Bildhauer, der seine Modelle einbalsamiert, der Chirurg auf der Suche nach Blut oder Körperteilen, um eine verlorene Frau oder Geliebte oder Tochter wiederherzustellen: Sind das nicht stilisierte Selbstporträts des unbekannten Filmemachers, dem man sich ausgeliefert hat?
Er ließe sich vorstellen als schmeichlerischer Unternehmer, ähnlich jenem aus einer anderen Zeit, der in der letzten Rolle von „Nightmare Alley“ Tyrone Power anheuert. Dieser archetypische Manipulateur wäre ein Genius der Ausbeutung, eine Ausgeburt des Rummelplatzes, aufgewachsen unter Ausstellern und Freaks und menschlichen Embryos in Formaldehyd, ein unbeständiger selbsternannter Meister der Verwandlung, unter dessen vordergründigen In
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karnationen – kleiner Scheckfälscher, mieser Zuhälter, kümmerlicher Schwindler – ein zweites Spektrum dunklerer Persönlichkeiten verborgen liegt: ein Voyeur wie der verrückte bärtige Maler, dessen Zerstreutheut immer Vergewaltigung und Mord ankündigt, ein korrupter Sadist, der sich mit raubvogelartiger Präzision auf Unschuldige und Verletzliche stürzt, oder der Oberguru eines jener Kulte, wie sie in seinen eigenen Filmen vorkommen, finstere Verschwörungen zu Entführung, Gehirnwäsche und Menschenopfer.
Man könnte vermuten, die Subkultur des Horrors besitze kein Ziel außer der – selbstverständlich zum Scheitern bestimmten – Suche nach einem Tiefpunkt, der Verfolgung des Abgelegenen in seine Schlupfwinkel, wenn Bilder freigesetzt werden, die brutaler und unzusammenhängender sind als alles zuvor. Aber selbst im plumpsten Beispiel geht die Gleichung selten so leicht auf. Der Horror als Unterhaltung hat seine dunkle Seite, aber die dunkle Seite besitzt ebenfalls eine Kehrseite. Der Sumpf des Schreckens vermag die Erwartungen nicht wirklich zu erfüllen, wenn er nicht auch eine weitere Verwandlung in sein Gegenteil verspricht: Wenn Furcht den Horrorfilm begleitet, so ist sein – nicht immer ausdrücklich benanntes – Thema die Liebe zum Monströsen.
Böse und zerstörerische Kräfte werden besänftigt, indem ihnen ihr gerechter Anteil an Verehrung zuteil wird – was impliziert, sie seien eine geheimnisvolle Notwendigkeit, ohne die das Leben form- und geschmacklos bliebe. Klassische Horrorfilme stellen das Alltagsleben als unerträglich flach und banal dar, bis es von der Poesie des Dämonischen überwuchert wird. Das Böse zeigt sich im exotisch schönen Arrangement von Linien, Farben und Tönen: Auf beängstigende Art verleiht es der Welt Ordnung, dem Leben einen Sinn. Die schwarze Messe in Edgar Ulmers „The Black Cat“ (1934) ist eine artistische Vorführung, die mit den Tönen der Orgel die ultramodernen Winkel von Boris Karloffs Kapelle im Bauhausstil zum Vibrieren bringt; das Menschenopfer, das den Ritus krönen soll, ist kaum mehr als ein zusätzlicher Schmuck des Festes.
Das Böse ist nicht nur lieblich, sondern ursprünglich. Es legt Zeugnis ab von seiner Nähe zum Ursprung, dem Omphalos, indem es sich um die Schriften, Gesänge, Schmuckstücke, Kronen und Opferaltäre verflossener Zivilisationen bewegt. In dem Film „Brides of Dracula“ von 1960 definiert der Vampirjäger Dr. Van Helsing den Vampirismus als „Überbleibsel einer der alten heidnischen Religionen in ihrem Kampf gegen die Christenheit“, und das gleiche ließe sich von den Vampirfilmen sagen. Der ausgemusterte Denkmechanismus – der keine Verwendung mehr findet bei der Kartographie magischer Briefwechsel oder der Vernichtung rachsüchtiger Geister – bleibt im engeren Feld des Horrorfilms erhalten. Der Tintenkleckser, der früher vielleicht eine Abhandlung über Dämonologie kommentiert hätte, schreibt heute das Drehbuch für einen Exorzismusfilm.
Das Drehbuch, das er zusammenbraut oder erträumt oder mittels eines Mediums empfängt, kratzt an einer verborgenen Tür zu den geheimen Bereichen wilder Mythologie, des Menschen- und Kinderopfers, der freiwilligen Kastration, der Tempelhurerei, der prophetischen Schizophrenie, des Hermaphroditen, der durch den Rauchfang kommt.
In „Brides of Dracula“ wird das neugeschaffene Vampirwesen, das sich aus seinem Grab quält, von einer alten Bäuerin angefeuert mit dem Ruf „Pressen! Pressen! Pressen!“, als hülfe sie bei einer Geburt. Ebenso gilt der Pfahl, der dem Vampir durch das Herz getrieben wird, als „heilende Handlung“. In einer intuitiven Wiederholung von Zeremonien, deren Anlässe längst vergessen sind, wird die Pestbeule des Bösen, symbolisiert in einem verdorbenen Herzen, durchbohrt, und die Stätte der Miasmen, der rituellen Verseuchung, wird durch Feuer oder Enthauptung gereinigt.
Das Archaische ist zugleich futuristisch. Der Serienkiller übernimmt die Logik des Opferpriesters oder des Ketzerjägers, schafft ein irdisches Paradies aus Hautfetzen und geschnitzten Knochen, die in erblühenden mandalischen Arrangements zusammengestellt werden. In „Demon Seed“ wird der Computer lebendig; in seinen Stromkreisen summt eine neu synthetisierte Bosheit wie der weltgebärende Atem von Ra oder Baal. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Grenzen des Horrors in die Vorstellungen zukünftiger biologischer Katastrophen hinein ausgedehnt: Die schlingende Kreatur im menschlichen Körper in „Alien“, die angreifende Rasse zwiegeschlechtlicher Außerirdischer in Larry Cohens „God Told Me To“, die vaginaähnliche Kassette, die sich in David Cronenbergs „Videodrome“ in James Woods Bauch öffnet und ihn in einen menschlichen Videospieler verwandelt, den die Medien buchstäblich vergewaltigen.
Der wahre Horrorfilm wäre jener, in dem die Kräfte des Bösen erfolgreich die Macht übernähmen, der Film, in dem sie selbst Regie führen. Aber diesen Film wird das Publikum niemals sehen; es muß sich bescheiden mit dem harmlosen Zwilling, in dem die Guten dafür sorgen, daß sich der Schrecken des Horrorfilms nicht verabsolutiert. Dr. Van Helsing und seinesgleichen verhindern die Übernahme, knallen die Tür zu, verbrennen das Haus oder das Pergament oder den Geist. Die Kämpfer für das Gute, die das Böse im Zaum halten, sind nur zu ertragen, weil sie strukturell nun einmal erforderlich sind. Die Nacht läßt sich nur definieren, wenn man auch – zumindest beiläufig – den Tag zur Kenntnis nimmt.
Bleibt der unendlich gealterte Dracula mit seinen Erinnerungen allein, schaut er sich alte Vampirfilme an wie ein pensionierter General, der schließlich fast an die Hollywoodversion des Zweiten Weltkriegs zu glauben beginnt? Bestimmt muß er endlose Mengen an Zeit totschlagen, ganz wie das Kind, das sich durch endloses Nachdenken über alte Horrorfilme einen Lebensvorrat an liebgewonnenen Bildern aneignet. Golem, Werwolf, Vampir: Sie alle sind gleich, nicht umzubringen. Ihre Beharrungsfähigkeit ließe sich verstehen als Emblem für etwas, das der Vitalität sehr ähnlich ist, aber doch ganz anders.
Dracula dient in der Ikonographie des Horrors als ein Bild, das immer aufs neue Nacherzählung, Variation und Wiederauferstehung auslöst. Es ist seltsam, daß das unerschöpflichste Bild das der Kreatur sein sollte, die erschöpft und aussaugt. Dracula ist der Gott einer Religion, der sowohl Hoffnung als auch Glaube fehlen, die nicht Wiederauferstehung bietet und das Leben, sondern ein endloses Leben im Tode, weder Schlaf noch Wachen, eine ewige Trance kaum befriedigten Begehrens. Anders als der Gott, der die Wasser des Lebens bietet – und vielleicht als verborgener Hinweis auf die unerwarteten Schrecknisse, wenn sich die Lehre von der Wiederauferstehung des Leibes als buchstäblich wahr erwiese –, verspricht Dracula das ambivalente Vergnügen eines ewig ungestillten Durstes.
Zu den Schrecken des ewigen Lebens gehört der endlose Wiederablauf der gleichen Ereignisfolge, wie der in den Wahnsinn treibende Alptraum in „Dead of Night“. Zuschauer und Filmemacher gleichermaßen sind an die Wiederholung gefesselt, ganz wie jene Filmfiguren (Humphrey Bogart in „Casablanca“, Dana Andrews in „Laura“, James Stewart in „Vertigo“), die an eine bestimmte Melodie oder ein Bild oder eine Haarfarbe gekettet sind. Zita Johann in „The Mummy“ neckt ihren archäologischen Bewunderer kokett: „Müssen Sie Gräber öffnen, um Mädchen zu finden, in die Sie sich verlieben können?“ Auf diesem Gebiet lautet die Antwort nur allzu häufig: Ja. Verliebte Fetischisten – oder, was dies angeht, fixierte Anhänger des Horrorkanons – zeigen die gleiche Manie für die punktuelle Wiederholung wie die Satanisten, die für ihr scheußliches Opfer die genaue Mondphase oder das langersehnte Kalenderjahr abwarten, oder wie der Serienkiller, der zur ewigen Wiederholung einer Verstümmelung verdammt ist.
Der Horror mißt eine Geographie der Erfahrungslosigkeit ab, eine Karte, die kaum einer Kenntnis der äußeren Welt bedarf. (Roger Corman bemerkte über seinen Edgar-Allen-Poe-Zyklus: „Das Unbewußte hat keine Augen, und deshalb, fand ich, sollten die Filme alle in Innenräumen spielen; wurden Außenaufnahmen doch einmal erforderlich, sollten sie nachts spielen. Ich sagte den Schauspielern und dem Drehteam: In keiner dieser Szenen will ich jemals ,Realität‘ sehen.“) Ein Kind könnte eine solche Karte zeichnen; in ihren charakteristischsten Beispielen fangen Horrorfilme mit seltener Präzision die irrationalen, rituellen, repetitiven Arten kindlichen Denkens ein. Der Film kann psychologische Motivation und physische Kausalität ignorieren, weil er einen Geisteszustand anspricht, dem sie noch nicht bewußt sind – auf diesem Niveau gedeiht auch weiterhin das magische Denken. Der Horrorfilm erhält in seiner Weigerung, auch nur die geringste Information über die reale Welt mitzuteilen, eine unerwartet tröstende Qualität. Der Geist kapituliert vor der Flüchtigkeit eines hermetischen Königreichs, in dem alles möglich ist.
Die Antithese dieses Zyklus der Wiederholungen wäre die noch scheußlichere Aussicht auf einen Film, indem sich überhaupt nichts wiederholte und keine einmal aufgetretene Figur jeweils erneut erschiene: Ein Universum loser Enden, so von Information erfüllt, daß man sich niemals darin zu Hause fühlen könnte. Es würde ihm jener Kern an Stabilität fehlen, den der Horrorfilm in übertriebener Form als Familiengrab oder Gespensterhaus darstellt, den beständigen Ort hinter der Veränderung, aus dem niemand abreist, von dem sich niemand löst.
Hier ähnelt der Film (das geisterähnlichste Medium) endlich dem Sarkophag, dem Friedhof ausgemusterter Motive, dem Ort, wo der psychologische Thriller seine Psychologie verliert und wo Geschichten in die Grube fahren. Nur daß die obligatorische Zeremonie gleichzeitig zeigen soll, daß keine Geschichte jemals stirbt, daß auch das dürftigste und älteste Plot – auch der schäbigste und absurdeste Ersatz für eine vernünftige Erklärung – immer aufs neue wiederkehrt. Hier kommt das Kino seiner Funktion am nächsten, die Toten ins Leben zurückzubringen. Oder zurück in irgendeine Art Leben: Ein Leben, das sich entnervend leicht zufrieden gibt mit Ersatz, mit Symbolen, mit ausgeborgten Zwei-Groschen-Masken. Geld oder Produktionsqualität oder Ernsthaftigkeit oder Originalität sind nur beiläufig von Interesse: Solange die erforderlichen Handlungen und Gesten eingehalten werden, genügt das Dürftigste. Eine gewisse Billigkeit trägt häufig sogar zu den beängstigenden Obertönen der dargestellten Ereignisse bei. Von den besten (Carl Dreyer) zu den schlimmsten (She- Demons oder The Curse of the Aztec Mummy) ist es gar nicht so weit. Hier – hinter dem Fenster, jenseits der Tür, unter dem Keller – ist der Film kein Mittel mehr, sondern ein Ziel. Die Bilder sind so autonom, daß sie selbst die Regie führen.
Richtig vollzogen, rettet die rituelle Handlung die Welt. Der Kreis ist ungebrochen, ebenso wie jener Kreis, in dessen Mitte der beschworene Dämon erscheint. Die Toten erstehen wieder zum Leben – aber, wie sich zeigt, nur um den Beweis anzutreten, daß sie erst einmal tot gewesen sind. Der Zuschauer – wie der Vampirjäger Dr. Van Helsing, wie das Mädchen, das dem Texas-Kettensägen-Massaker im letzten Augenblick durch einen Sprung aus dem zweiten Stock entkommt – erweist sich als der einzige Überlebende, der mehr bedauernd als dankbar zur Kenntnis nimmt, daß es schließlich doch nur ein Film war.
Mit freundlicher Genehmigung von „The New York Review of Books“ aus dem Amerikanischen übertragen von Meinhard Büning
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