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Sparen an der SelbstbestimmungDer lange Arm der Geldgeber

Die Assistenzgenossenschaft hat nach langem Streit einen Tarifvertrag. Das nutzt den knapp 300 Mitarbeitern aber nichts – denn Behörden und Kassen zahlen nicht.

MitarbeiterInnen der Assistenzgenossenschaft, die behinderte Menschen unterstützen, sollen mehr verdienen. Umstritten ist: wie viel mehr Bild: DPA

BREMEN taz | 18 Jahre haben sie bei der die Assistenzgenossenschaft (AG) keine Lohnerhöhung bekommen, mehr als drei Jahre um einen Tarifvertrag gerungen. Nun gibt es einen, seit 1. April. Aber mehr Geld bekommen die knapp 300 MitarbeiterInnen des ambulanten Pflegedienstes für behinderte Menschen trotzdem nicht. Denn die Sozialbehörde und die Pflegekassen refinanzieren diesen Tarifvertrag bislang nicht.

Zwar laufen schon seit Februar Verhandlungen über Entgelte, sagt Gewerkschaftssekretär Uwe Schmid von Ver.di., doch bisher ohne Ergebnis. „Die lassen die Assistenzgenossenschaft am langen Arm verhungern“, sagt Schmid. Für die AG wiederum heißt das: Sie ist im schlimmsten Falle von Insolvenz bedroht. Deren Geschäftsführung sitzt in der Zwickmühle – sie hat den Tarifvertrag mit Ver.di unterschrieben, bekommt aber von den Kassen und Behörden nicht das Geld, um ihn zu bezahlen. Deshalb verzichtet der AG-Betriebsrat bislang darauf, den Tarifvertrag einzuklagen. „Wir wollen nicht, dass unser Arbeitgeber pleite geht“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Jörn Bracker. Dem Vernehmen nach geht es um Mehrkosten von mehreren 100.000 Euro. Dabei bleibt der Lohn in jedem Falle kärglich: PflegerInnen, die bisher 9,15 Euro pro Stunde bekommen, sollen künftig 10,08 Euro verdienen.

Nun ist die AG aber nicht irgendein Pflegedienst: Sie ist, und da war Bremen einst Vorreiter, ein Kind der Behindertenbewegung der 70er-Jahre. Hier werden Menschen mit Behinderungen nicht „gepflegt“ oder „betreut“, sondern „unterstützt“ – damit sie selbstbestimmt leben können. Einer der Vorkämpfer dieser Bewegung ist Horst Frehe. Der grüne Sozial-Staatsrat ist zudem Mitbegründer der AG. Es sei nicht hinnehmbar, wenn deren MitarbeiterInnen von der allgemeinen Lohnentwicklung abgehängt würden, sagte Frehe früher. Heute hält er sich aus den Verhandlungen raus, gerade wegen seiner Biografie.

Doch der Vorwurf des AG-Betriebsrates, die Sozialbehörde wolle der Tarifvertrag und die UN-Behindertenrechtskonvention, so wie die AG sie umsetzt, nicht anerkennen – er wiegt schwer. Die Sozialbehörde widerspricht denn auch: „Eine Anhebung der Einkommen ist vollkommen gerechtfertigt, eine tarifliche Grundlage wird akzeptiert“, sagt der Sprecher. Aber ganz so viel mehr soll es dann doch nicht sein. Ansonsten schiebt die Behörde den Schwarzen Peter weiter zu den Kassen. Beim Verband der Ersatzkassen weigert man sich, zu den laufenden Verhandlungen Stellung zu nehmen, dementiert aber, einen Tarifvertrag nicht anerkennen zu wollen. Im Streit der Kostenträger mit der AG geht es um Berechnungsgrundlagen oder die Frage, was genau jene verdienen, deren Arbeit besonders schwer ist.

Der AG-Betriebsrat setzt nun auf öffentlichen Druck: Am Dienstag wird beim Europawahlkampf der Grünen demonstriert.

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1 Kommentar

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  • Wo bleibt die Wertschätzung für die Arbeit am Menschen?

     

    Für 10.08 € die Stunde bekommt man nicht einmal einen Rührmixer repariert.

     

    Ist Ihr Telefon defekt, zahlen Sie für einen Telekomtechniker über 122 € die Stunde plus 48,68 € Fahrtpauschale.

     

    Die "Intensität" mit der sich rot-grün bisher diesem Thema "gewidmet" haben, zeigt auch die Wertschätzung, die pflegerischer Arbeit und Arbeit am Menschen entgegen gebracht wird.

     

    Es ist schon eine Schande für eine Sozialbehörde, wenn einer solchen Bezahlung 18 Jahre zugewartet und nicht von selber aktiv Verhandlungen über würdige Bedingungen für wertvolle Arbeiten angeboten werden.

     

    Der unwürdige durchschnittliche Stundenlohn für eine Hebamme von 8,50 € wird von Seiten der Politik auch keine Aufwertung erfahren.

    Dem widmen sich dann Politiker, die locker das 10fache einstreichen auch nur, wenn diese Berufsgruppe aufgeben muss, weil die jährlichen 5.000 € Haftpflichtprämie davon nicht auch noch erbracht werden können.

     

    Unsere gelähmte Regierung benötigt dringend eine Aufmunterung von unten - aber ich bin nach wie vor erstaunt, wieviel die Bremer BürgerInnen hinzunehmen bereit sind, ohne "denen da oben" Feuer zu machen.

     

    In Frankreich - da bin ich sicher - wäre die Bürgerschaft längst nicht mehr zugänglich, weil Hebammen und PflegerInnen mit ihrem Verbandsabfall, alten Windeln und Mutterkuchen die Eingangshalle verschönert hätten.... und das mit Recht!