Spanischer Politologe und „Podemos“: Vom Faschisten zum radikalen Linken
Die USA lassen Jorge Verstrynge nicht mehr einreisen. Wie aus einem Rechten der Vater einer sozialen Bewegung wurde. Ein Portrait.
MADRID taz | „Ich war, politisch gesehen, wohl ein bisschen schizophren“, sagt Jorge Verstrynge und lächelt. Ein kurzer Blick hinter ihn genügt, um zu verstehen, was der 65-jährige Politikprofessor an der Universität Complutense in Madrid meint. Im überfrachteten Bücherregal neben dem Sessel, in dem es sich der hagere Weißhaarige gemütlich gemacht hat, stehen politische Traktate – von Adolf Hitlers „Mein Kampf“, über Schriften Charles de Gaulles bis zum „Kommunistischen Manifest“ von Karl Marx.
Das Wohnzimmer schmückt ein Bild des französischen Revolutionärs Robespierre, das Schlafzimmer eine große rote Fahne aus den Zeiten der UdSSR mit dem Konterfei Lenins. „Als Jugendlicher war ich Faschist, dann Nationalbolschewist. Heute stehe ich der Protestbewegung Podemos nahe“, resümiert Verstrynge seinen langen politischen Werdegang von ganz rechts nach ganz links, den in Spanien viele kennen, aber nur wenige wirklich verstehen.
Bekannt wurde Jorge Verstrynge als junger Erwachsener in den ersten Jahren nach Ende der Franco-Diktatur. Er brachte es bis zum Generalsekretär der Alianza Popular (AP), Vorgängerorganisation der heute in Spanien regierenden konservativen Partido Popular. 1983 kandidierte Verstrynge erfolglos für das Bürgermeisteramt in Madrid, war Parlamentsabgeordneter der AP, bis er Anfang der 1990er Jahre zur sozialistischen PSOE wechselte. Auch ihr drehte er bald den Rücken und wurde Berater des Generalsekretärs der spanischen Kommunisten.
Heute steht er der linken Protestbewegung Podemos – „Wir können“ – nahe. Mit deren Gründern, einer Handvoll Universitätsprofessoren, teilt er Fakultät und Hörsäle. „Parteichef Pablo Iglesias war mein brillantester Schüler. Er ist so etwas wie ein Sohn für mich“, sagt Verstrynge stolz über den jungen Politiker, dessen Partei Podemos Anfang des Jahres entstand und bei den Europawahlen auf Anhieb 1,2 Millionen Stimmen (8 Prozent) holte und seither in den Umfragen unaufhörlich zulegt.
Ein Linker - ohne Anführungszeichen
„Wenn jemand nur einigermaßen bei Verstand ist, wird er in diesen Zeiten immer wütender und immer linker“, erläutert Verstrynge, warum er sich heute zu den „Linken ohne Anführungszeichen“, wie er das nennt, zählt. Die soziale Frage sei schon immer so etwas wie „der rote Faden“ in seinem bewegten politischen Leben gewesen. „Die Reichen verteidigen sich selbst, die Armen können das nicht“, erklärt er, warum er die Nähe zu den „Empörten“ suchte, die am 15. Mai 2011 in Madrid ihr Protestlager an der zentralen Puerta del Sol errichtet hatten.
„Selbst in der Franco-Diktatur konnte man die Arbeiter nicht einfach so entlassen und wurden Schuldner nicht einfach zwangsgeräumt wie heute“, sagt er. „Es gab zwar brutale soziale Unterschiede, aber nicht wie jetzt, wo so mancher das Tausendfache des Mindestlohns verdient.“ Natürlich habe er sich nach links entwickelt. „Aber das Land ist nach rechts abgedriftet“, sagt Verstrynge und wird leidenschaftlich, ja laut. Er vergleicht sich gerne mit einem Geisterfahrer. Während sich alle rasend schnell nach rechts entwickelten, habe er die Gegenrichtung eingeschlagen.
Seit jenem Mai 2011 ist Verstrynge unermüdlich gegen die Krisenpolitik und ihre Folgen auf der Straße aktiv. „Neun Monate lang haben wir 2012 täglich für dreißig Minuten die Kreuzung vor dem Krankenhaus blockiert“, berichtet er über den erfolgreichen Bürgerprotest gegen Privatisierungen im Gesundheitssystem, die im Rahmen der Sparpolitik geplant waren. Auch bei Aktionen gegen die Zwangsräumung von Wohnungseigentümern, die ihre Kredite nicht abzahlen können, macht er an der Seite seiner Frau mit. Verstrynge war auch einer der Letzten, die von der Polizei aus einem besetzten Sozialzentrum unweit seiner Wohnung geräumt wurden.
Demonstrieren und Dozieren
Nicht nur die Presse, auch die Polizei nimmt sich gern seiner Person an. Jüngst wurde Verstrynge verhaftet, als er trotz Demonstrationsverbot mit ein paar hundert Menschen am Krönungstag von Felipe VI. auf der Madrider Puerta del Sol für die Republik demonstrierte. Das Bild von dem Weißhaarigen in Jeans und T-Shirt mit einem rot-gelb-purpurnen Aufdruck, den Farben der Republik, der von Polizisten mit Helm und kugelsicherer Weste umringt wird, verbreitete sich in Windeseile übers Netz. Noch diesen Monat muss er deswegen vor den Richter.
Ein Gespräch mit Verstrynge gerät schnell zu einem politischen Hochschulseminar. Spanien ist für ihn „parlamentarisch repräsentativ, aber nicht demokratisch“. Demokratie gebe es nur, wenn das Volk per Volksabstimmung entscheiden könne „und die Möglichkeit hat, die Inhaber politischer Ämter per Referendum abzuwählen, wenn sie ihre Versprechen nicht halten – wie in Venezuela“. Er schimpft auf Bankenrettung, Korruption und die Monarchie, analysiert die europäische Wirtschaftspolitik, philosophiert über die „Rückeroberung der monetären Souveränität im Europa des Euro“. Wenn er vom „Regime“ und von „den Herrschenden“ redet, benutzt er gerne den Ausdruck „Jauría“, zu Deutsch „die Meute“. Es ist eine „Kaste von Raubtieren, die die Schwachen verschlingen“, sagt er und verweist, egal bei welchem Thema, immer wieder auf zeitgenössische französische Politologen und Philosophen.
Dabei steckt er sich eine Gitanes nach der anderen an. Wenn sein Handy klingelt, ertönt die französische Nationalhymne, die Marseillaise. Oft sind es Studenten, die irgendein Problem mit einer Hausarbeit oder den bevorstehenden Prüfungen haben.
Herkunft Nordafrika
Sein ungewöhnlicher politischer Weg sei „familiär angelegt“, analysiert Verstrynge den eigenen Werdegang. Geboren 1948 im marokkanischen Tanger als Sohn einer französisch-spanischen Familie, lebte er in Rabat und Oran. Sein belgischstämmiger Vater war Faschist und wie Sohn Jorge Anhänger der OAS, der französischen Untergrundarmee, die im Algerienkrieg gegen die Regierung in Paris für den Verbleib des Landes in europäischer Hand kämpfte. Nach der Trennung seiner Eltern heiratete die Mutter bald erneut, einen französischen Kommunisten, der in einer Baufirma als Projektleiter arbeitete. „Das ist mein eigentlicher Vater“, sagt Verstrynge und zeigt auf ein altes Foto eines bärtigen Mannes, der mit Robespierre im Bilderrahmen steckt. „Ich war 12. Seine Ideen standen meinen diametral entgegen“, erinnert sich Verstrynge an seine Kindheit.
Der neue Vater, der von Frankreich nach Marokko verbannt worden war, unterstützte die Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien. Und er war für eine sozialistische Gesellschaftsordnung. „Hier begann die Dualität: Politisch war ich weiterhin dafür, dass das französische Kolonialreich bestehenbleibt; gleichzeitig fing ich an, zu denken, dass die Banken, die Versicherungen und große Infrastrukturen verstaatlicht werden müssen. Letzteres glaube ich bis heute“, sagt er und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „In Sachen Unabhängigkeit brauchten wir lange, bis wir merkten, dass der Alte recht hatte.“ Heute bewundert Verstrynge den französischen Expräsidenten Charles de Gaulle als „einen großen Staatsmann“.
Auch die Familie Verstrynge musste gehen. Der junge Jorge, der Spanisch mit französischen Akzent sprach, kam nach Madrid. Er erinnert sich „vor allem an die Ruhe, die Sicherheit“. Das beeindruckte den Heranwachsenden, der im algerischen Oran miterleben musste, wie seine Familie und ihre französischen Nachbarn Zettel mit der Aufschrift „Koffer oder Sarg“ fanden. „Natürlich hatte die Sicherheit in Spanien einen Preis: Du musstest den Mund halten.“
Karriere als Generalsekretär
Verstrynges Weg in die Politik begann an der Universität. Es war nicht die Linke, die es im antat, sondern sein Professor Manuel Fraga. Im einstigen Informationsminister Francos und ersten Innenminister nach dem Tod des Diktators im Jahr 1975 sah der junge Verstrynge einen Reformer – „eine Art spanischen de Gaulle“. „Ich hatte mich getäuscht“, weiß er heute. Verstrynge wurde Generalsekretär in Fragas Alianza Popular. Es ist jene Zeit, die ihm bis heute manche nachtragen. „Ich hatte die Aufgabe, radikale Erklärungen abzugeben, wenn Fraga politisch vorsichtig sein wollte“, sagt Verstrynge und lächelt dabei.
Es war ausgerechnet eines dieser öffentlichen Statements, die zum Bruch mit Fraga und der AP führten. „Ich habe die Bombardierung von Tripolis 1986 durch die USA verurteilt“, erinnert sich Verstrynge. Die Kommunisten lobten ihn, Fraga war empört. Es war der Beginn einer Reihe von Meinungsverschiedenheiten, die schließlich zum Bruch führten. „Ich bin in Nordafrika geboren. Was hat er von mir erwartet?“, fragt Verstrynge.
Auch der Austritt aus der sozialistischen PSOE, in der er seine neue politische Heimat fand, erfolgte nach einem Militäreinsatz. Verstrynge verurteilte den Angriff der USA und der Nato auf Serbien und verließ auch diese Partei. „Die Kommunisten haben um mich geworben“, erinnert er sich, aber er habe abgelehnt. „Ich halte nichts von Religion, auch nicht von einer weltlichen“, lautete seine Begründung.
Parteienüberdruss
Fortan hielt er sich von allein Parteien fern und ging zurück an die Universität. Sein Werk „Der periphere Krieg und der revolutionäre Islam“ über den asymmetrischen Krieg sollte zum Bestseller werden; nicht in Spanien, sondern in Venezuela. Hugo Chávez ließ 30.000 Exemplare drucken und an die Soldaten seines Landes verteilen. „Das bescherte mir ein Einreiseverbot in die USA“, sagt Verstrynge. Es stört ihn nicht weiter, da ihm die USA mit ihren sozialen Ungerechtigkeiten eh unsympathisch sind.
Trotz seiner Nähe zu der neu gegründeten Podemos-Partei strebt Verstrynge kein politisches Amt mehr an. Dies sei Aufgabe einer neuen, jungen Generation. „Berater oder Mitglied einer Studiengruppe für Wirtschaftspolitik“ könne er sich vorstellen. Mehr nicht. Verstrynge weiß, dass er mit seiner Vergangenheit für viele ein schwer zu verdauender Brocken ist. Er will dem Projekt von Podemos-Chef Pablo Iglesias nicht schaden.
„Ich hoffe, er erreicht, was mit nicht geglückt ist“, sagt er im Ton eines gütigen Vaters. „Meine Generation ist ein Desaster. Alles, was wir gemacht haben, ist ein Desaster. Spanien sollte ein sozialer Rechtsstaat werden und ist heute alles andere als das.“
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