Spanischer Ex-KP-Chef Carrillo gestorben: Kommunist ohne Grab
Santiago Carrillo, langjähriger Funktionär der spanischen Kommunisten, ist tot. „Eine Beerdigungsfeier, auf keinen Fall“, lautete sein letzter Wunsch
MADRID taz | Mit dem Wissen, dass ihm selbst nur noch wenig Zeit vergönnt sein werde, stand Santiago Carrillo an jenem regnerischen Samstag, dem 10. Oktober 2010, auf dem Madrider Zivilfriedhof. Zusammen mit zehntausenden Gewerkschaftern trug er den historischen Gewerkschaftsführer und Freund Marcelino Camacho zu Grabe.
Es war einer der letzten öffentlichen Auftritte Carrillos, des bekannten ehemaligen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE). Am Dienstag starb Santiago Carrillo und mit ihm einer der wichtigsten Politiker der bewegten Vergangenheit des Landes. Am Mittwoch wurde er aufgebahrt.
„Der Kapitalismus kann soweit gehen, die menschliche Spezies zu vernichten“, lautete ein Zitat Carrillos, das sein Foto an der Wand über dem offenen Sarg schmückte. Über 30.000 Menschen – Politiker aller Parteien, Künstler, Gewerkschafter, einfache Bürger mit und ohne Parteibuch – standen stundenlang vor dem Saal des Gewerkschaftshauses, das mittlerweile den Namen Marcelino Camachos trägt, Schlange. Betroffenes Schweigen, erhobene Fäuste oder eine andächtige Bekreuzigung – die Gesten der Trauernden zeugten von den Emotionen, die Carrillos Tod hervorrief.
Seine Vita liest sich wie eine kurze Geschichte der spanischen Linken. Jungsozialist in den 1920er Jahren, stieg er auf zum Führer der vereinigten sozialistisch-kommunistischen Jugend und wurde in den 1930ern Mitglied im Zentralbüro der PCE. Im Spanischen Bürgerkrieg war er verantwortlich für die öffentliche Sicherheit Madrids und lebte anschließend 38 Jahre im Exil.
Er arbeitete stets daran, Spanien zu versöhnen
Schließlich wurde er Generalsekretär der PCE, ein Amt, das er von 1960 bis 1983 ausfüllte, wobei er 1977 bei den ersten Wahlen nach dem Tod des Diktators Francisco Franco auch Abgeordneter wurde. 1985 wurde er von seinen orthodoxen Gegnern aus der Parteiführung ausgeschlossen.
Trotz des bewegten Lebens und seiner oft unbequemen politischen Ansichten gilt Carrillo den Linken jeder Couleur als Vordenker, der stetig daran gearbeitet hatte, das zerrissene Spanien wieder zusammenzuführen. Ende der 1950er Jahre setzte er zwei Jahrzehnte vor dem Ende der Diktatur in der PCE die Linie der „nationalen Aussöhnung“ durch. Nach dem Tod Francos reichte Carrillo, der mit Enrico Berlinguer in Italien und Georges Marchais in Frankreich zu den wichtigsten Vertretern des Eurokommunismus zählte, seinen einstigen Gegnern die Hand und rang um Kompromisse für ein neues, demokratisches Spanien.
„Der Übergang hätte sicher anders ausgesehen, wenn Carrillo nicht einige bedeutenden Entscheidungen getroffen hätte“, würdigte der Vorsitzende der sozialistischen PSOE, Alfredo Pérez Rubalcaba, den Verstorbenen. „Carrillo war einer der vielen, der an diesem wichtigen Abschnitt der spanischen Geschichte beteiligt war“, schloss sich die Vizepräsidentin der konservativen Regierung, Soraya Saénz de Santamaría, dieser Würdigung ebenso an wie König Juan Carlos.
Carrillo selbst war zuletzt wenig optimistisch, wenn es um Aussöhnung und Demokratie ging. Schuld war die Härte, mit der die Konservativen unter Ministerpräsident Mariano Rajoy und die katholische Kirche Opposition gegen Reformen wie die Ausweitung des Rechts auf Abtreibung oder die Homoehe betrieben.
Zielscheibe für Faschisten
Hinzu kam das Berufsverbot gegen Richter Baltazar Garzón, der versucht hatte, die Verbrechen der Franco-Diktatur aufzuarbeiten. Carrillo warf den Konservativen in einer Radiodebatte, an der er bis zur Sommerpause wöchentlich teilnahm, vor, „weiterhin den alten Werten“ anzuhängen und bezeichnete die Kirche als „mittelalterlich“.
Für Ultrakonservative und Faschisten war der Politiker umgekehrt ebenfalls eine Zielscheibe. Für sie war Carrillo verantwortlich für Massenhinrichtungen im Bürgerkrieg seitens der Verteidiger der spanischen Republik – obwohl kein Gericht jemals Anlass zu Ermittlungen sah. Immer wieder kam es zu Übergriffen, wenn Carrillo öffentlich auftrat, zuletzt bei der Verleihung eines Ehrendoktors in Madrid.
„Eine Beerdigungsfeier, auf keinen Fall“, lautete der letzte Wunsch des überzeugten Atheisten. Sein Leichnam wurde am Mittwoch eingeäschert. Nicht einmal ein Grab neben seinem Freund Marcelino Camacho wollte er haben. Seine Asche wird im nordspanischen Atlantik ausgestreut, an dessen Ufern Carrillo vor knapp 97 Jahren geboren wurde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen