Spanische Grippe und Covid-19: Wurzeln gegen die Angst
Vor 100 Jahren fielen der Spanischen Grippe Millionen Menschen zum Opfer. Was können wir von ihr lernen?
A ls ich Anfang März von einer zweiwöchigen Reise aus Südamerika zurückkehrte, war die Welt verändert und die Ereignisse überschlugen sich. Auch das Coronavirus war im Flugzeug unterwegs gewesen und hatte sich innerhalb weniger Wochen in nahezu allen Ländern verbreitet. Die WHO rief eine Pandemie aus. Angst und Sorge verspürte ich nicht. Die folgenden Diskussionen waren mir merkwürdig vertraut. Häufig ahnte ich bereits, welches Thema als nächstes die öffentliche Debatte bestimmen würde und woran sich die Gemüter erhitzten. Das lag nicht etwa an prophetischen Fähigkeiten, sondern an meiner Forschung zu einer lange zurückliegenden Seuche.
Im Zusammenhang mit der Coronapandemie gerät ein Ereignis in den Fokus, dem vor rund 100 Jahren bis zu 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen: die Spanische Grippe. Von der „Mutter aller Pandemien“, wie sie nun genannt wird, soll in Bezug auf Corona gelernt werden; insbesondere über Ausbreitung, Wellen, Immunität, Schutzmaßnahmen. Andere Aspekte finden bislang kaum Beachtung: die sozialen, zwischenmenschlichen, psychologischen und seelischen.
Obwohl jede Pandemie ein spezifisches Einzelereignis ist, finden sich wiederkehrende Muster. Diese Kenntnis kann helfen, sich einer Zäsur weniger angstbesetzt zu nähern. Vor allem zu Beginn der Spanischen Grippe im Jahr 1918 herrschte Unsicherheit, um was für eine Erkrankung es sich handelte. Experten stritten über Diagnose, Todesursache und Immunität. Man suchte verzweifelt nach Impfstoffen und Behandlungsmöglichkeiten. Kriegsführende Staaten verleugneten die Seuche zunächst; Kirchenvertreter sahen sie als Zorn Gottes. Verschwörungstheorien hatten Konjunktur und windige Geschäftsleute priesen vermeintliche Heilmittel an: Dr. Kilmers Sumpfwurzel sollte grippegeschädigte Nieren heilen. Formamint-Tabletten, eine Mischung aus Formaldehyd und Milchzucker, waren begehrt und zeitweilig ausverkauft. Die AEG bewarb ihre elektrischen Geräte als hilfreich gegen Grippe. In New Orleans fanden Amulette, Federn weißer Hühner und Karo-Asse für den linken Schuh großen Absatz.
Angst war ein dominantes Thema, Ärzte besprachen es in Fachzeitschriften. Durch den Krieg herrschte Ärztemangel, Freiwillige, Ärzte im Ruhestand, Medizinstudenten und Schwesternschülerinnen halfen aus. Es gab Krisengewinnler auf der einen, viele Arbeitslose und soziale Ungleichheit auf der anderen Seite. Es starben deutlich mehr Arme, aber auch einige Prominente.
Stefanie Liv Jahn ist Ärztin in Berlin und Hamburg und hat 2014 zur Spanischen Grippe promoviert.
Anders als vor 100 Jahren sind uns Viren heute bekannt. Trotzdem wissen wir noch nicht genau, wie das neuartige Coronavirus auf den Körper einwirkt und was es anrichtet. Wie früher widersprechen sich Erkenntnisse oder gelten alsbald als überholt. Zügige Studienergebnisse werden versprochen, Hoffnungen geweckt und wieder einkassiert; Präparate als Heilmittel in Erwägung gezogen und fallen gelassen. Das war damals nicht anders, Fachzeitschriften waren voll von „vorläufigen Mitteilungen“.
Während der Spanischen Grippe versuchte man, die Ausbreitung der Krankheit über Hygiene- und Quarantänemaßnahmen einzudämmen, ein klarer Fortschritt gegenüber vorherigen Seuchen. Es stellte sich heraus, dass eine Infektion während der ersten Welle nicht zwangsläufig vor Erkrankung während der zweiten schützte. Diese zweite Welle folgte, als man das Schlimmste überstanden glaubte und verlief ungleich schwerer und tödlicher. Heute ist bekannt, dass Viren mutieren und dadurch neue Virustypen entstehen.
Neu ist die aktuelle Strategie, die Ausbreitung der Pandemie in die Länge zu ziehen und das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen. Die zeitliche Verzögerung soll der Entwicklung eines Impfstoffes dienen. Wie sicher ist, dass er wirkt – und wenn ja, wogegen? Besteht die Gefahr, dass längst Sars-CoV-3 grassiert, wenn endlich ein Impfstoff für Sars-CoV-2 verfügbar ist? Kommt die Zwangsimpfung? Über medizinische Tabus wird aktuell berichtet und über absichtliche Ansteckung diskutiert. Doch schon damals experimentierte man mit „Schutzstoffen“ aus dem Blut Überlebender. Gefängnisinsassen ließen sich zur Erforschung von Medikamenten mit mutmaßlichen Grippeerregern infizieren – mehr oder weniger freiwillig. In einer existenziellen Notlage sind Entscheidungen nicht frei. Auch das Benutzen einer Corona-App wird begleitet werden von moralischem Druck.
Virologen im Gladiatorenkampf
Mit der Digitalisierung wächst die Gefahr von Überwachung und Beeinflussung. Damals existierten nur Printmedien. Heute ermöglichen soziale Medien ein Wirrwarr aus Informationen und Meinungen. Man fühlt sich gut informiert und als Experte. Hybris oder Unwissenheit können schon mal in lebensgefährlichen Vorschlägen gipfeln, wenn etwa zur Einnahme von Desinfektionsmittel geraten wird.
Aufklärung und Transparenz sind in diesen Zeiten wichtiger denn je. Die unmittelbare mediale Zurschaustellung erinnert allerdings zunehmend an Gladiatorenkämpfe: Meinungsverschiedenheiten zwischen Virologen und Politikern werden als Duelle inszeniert. Selbst Virologen-Fanartikel gibt es. Unterhaltungswert und Adrenalinausstoß sind garantiert – ein Ersatz für die ausfallenden Fußballspiele.
Jede Zeit hat ihre Themen. Die Grundprobleme, mit der Gesellschaften und Individuen konfrontiert werden, bleiben – im jeweiligen Kontext – ähnlich. Für uns alle lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Er gestattet es, Vertrautes und Vergleichbares zu erkennen und dadurch eine erschütternde Erfahrung im Heute zu relativieren, ihr die Vehemenz zu nehmen. Aber es geht nicht nur um die eigene Angst. Aus der Geschichte lernen heißt auch, dass wir nicht jedes Drama selbst erlebt haben müssen, um Antrieb und Kraft zu finden, zukünftige Katastrophen zu vermeiden. Was systemrelevant ist, liegt in unser aller Hand.
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