: Spätes Mutterglück in Seattle
■ Mit Gelassenheit zum Erfolg: Das „4+1 ensemble“ des Pianisten und Komponisten Wayne Horvitz spielte im KITO
Wallace Stegner ist ein Zuspätkommer. 80jährig fiel ihm ein, dass er seiner Mama doch noch was zu sagen hatte, nur hatte die bereits ein halbes Jahrhundert zuvor das Zeitliche gesegnet. Also schrieb Stegner seine Gedanken auf. Es entstand ein Text, dessen Titel passenderweise lautet: „Letter, Much Too Late“.
Vielleicht hat den New Yorker Komponisten, Keyboarder und Pianisten Wayne Horvitz, die Vorstellung fasziniert, dass ein Satz „My name was the last word you spoke“ Jahrzehnte im Kopf Stegners nachgehallt haben muss, bevor er es zu Papier brachte. Wie eine Melodie, die sich im Gedächtnis einnistet, ein Klang, der endlos Schleifen zieht. Anlass genug jedenfalls, diesen Brief zu vertonen. Heraus kam „The Letter Series“, eine Komposition für Kammerensemble und Elektronik, die nun im KITO ihre europäische Erstaufführung erlebte.
Ende der 80er Jahre formierte sich in New York eine Band, die „Naked City“ hieß und lange Zeit zum besten gehörte, was es musikalisch aus dieser Stadt zu vermelden gab. Erstens weil der Collage-Gedanke auf die Spitze getrieben wurde – selten ging ein Jazz-Ensemble so virtuos mit dem Zitieren um – und zweitens weil „Naked City“ so gut aufeinander eingespielt war, dass einem der Atem stockte. Horvitz war, neben Zorn, Frith, Baron und Frisell, Teil dieses Wow!-Line-Ups.
Die fünf Herren sind älter geworden und wesentlich ruhiger. Das gilt auch für Horvitz, der zwar mit Formationen wie den „Residents“ die Verbindung zur Westküsten-(Post)Rock-Szene versuchte, aber eigentlich erst mit seinem „4+1 Ensemble“ vor zwei Jahren wieder ein richtig gutes Werk vorlegte. Es sollte sich zeigen, dass dies Quintett in der Lage ist, das Material der Platte auf der Bühne deutlich anders zu präsentieren.
„Nennt es Jazz, wenn's denn sein muss“, enden die Linernotes. Aber diese Musik habe eigentlich keinen Namen. Sie ist der Versuch, elektronisches Equipment in einen kammermusikalischen Rahmen zu integrieren, ohne dabei den Spaßaspekt außen vor zu lassen. Die Verbindung, ElectroAcoustic Music, die aber auf den Traditionen von Jazz und freier Improvisation beruht, ist relativ neu.
Die Arbeit des „4+1 ensemble“ mag weniger als Klangforschung gelten. Sie zeigt vielmehr, dass es dreißig Jahre nach Beginn des Einzugs von Elektronik in den Jazz möglich ist, zeitgemäßen Jazz mit den Mittel elektronischer Klangverfremdung zu kombinieren. „+1“ bezeichnet die Stelle von Tucker Martine, der im Ensemble für eben diese Manipulationen zuständig ist. Martines Arbeit ist behutsam, fragil. Niemals entsteht ein Klangbrei, sondern die Verfremdungen passieren en passant: deutlich, aber kaum merklich.
Das Konzert bot Gelegenheit, dies zu betrachten. Fast ist es, als löste sich der Klang zeitweilig vom Instrument, um schließlich wieder zu ihm zurückzufinden. Horvitz bastelte Patterns zu einer Schleife und unterlegte damit das folgende Stück.
Das Ganze war eine ruhige, unspektakuläre Angelegenheit, was vielleicht auch daran lag, dass Rhythmus hier nicht durch einen Drummer vorgegeben wurde, sondern erst aus dem Zusammenspiel von Piano, Eyvind Kangs Violine und dem Baritonsaxofon Lee Skaretts entstand. Ohne dass Zitate hier so schroff gegeneinandergesetzt wurden wie weiland bei „Naked City“, griff Horvitz tief in die Repertoirekiste. Die war so groß, dass problemlos Anton Webern und Cecil Taylor nebeneinander Platz fanden.
Stets handelte es sich um Anklänge. Soundmäßig verlief das oft in minimalistischen Bahnen. Themen wurden oft unisono eingeleitet, im Verlaufe eines Stücks immer wieder aufgenommen. dazwischen standen wabernde Elektropassagen oder kurze, sehr freie Passagen, für die vor allem Violine und Saxofon verantwortlich zeichneten.
Der Klang des Quintetts wirkte dabei deutlich kompakter als der erste Set mit Mitgliedern der Kammerphilharmonie. Das mag daran gelegen haben, dass die Probenzeit äußerst kurz war, aber auch, dass MusikerInnen, denen Neue Musik wirklich nicht fremd ist, mit Improvisation so ihre Probleme haben. „The Letter Series“ bot prima Material für „4+1“, litt aber doch ein bisschen am ständigen Problem von Jazzkomponisten, die für Kammerorchester schreiben. Trotzdem war es auch ein schönes und erstaunlich harmonisches erstes Set. Tim Schomacker
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