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Archiv-Artikel

Soziotop Spreewald

„Das Geheimnis im Moor“ zählt zu den besten Filmen dieses Jahres – als Serie wäre er die Vorlage für ein deutsches „Twin Peaks“. 20.15 Uhr, ZDF

VON HANNAH PILARCZYK

Ob das ZDF so richtig gemerkt hat, was für einen Stoff es da in den Händen hält? Wohl nicht, denn sonst hätte es erkannt, dass in seinem heutigen Fernsehfilm der Woche das Zeug für eine erstklassige Serie, für ein deutsches „Twin Peaks“ steckt: „Das Geheimnis im Moor“ bietet so komplexe Charaktere, oberflächlich zusammengeführt durch einen Mordfall, tiefgründig durch die deutsch-deutsche Geschichte verbunden, dass man sich wünscht, das ZDF hätte ihnen mehrere Folgen gegönnt, um ihr ganzes dramatisches Potenzial zu entfalten. Was nicht heißt, dass nicht auch der Film in seiner Verknappung zu den besten dieses Jahres zählt.

Es fängt konventionell an: Umringt von seinen Studenten führt der Berliner Unfallchirurg Til Desno (Sebastian Blomberg) stolz seine neu entwickelte Software zur Rekonstruktion der Gesichter von stark zerstörten Leichen vor. Doch was sich auf dem Bildschirm zügig aufbaut, wischt ihm den Triumph aus dem Gesicht. Es ist das Gesicht von Ralf, einem Schulfreund. Nach dem Abitur, vor zwanzig Jahren, hatten sich Ralf (Nicolas Kantor), Til und seine Freundin Sabrina (Anna Loos) sowie Karsten (Kai Scheve) in einer Sommernacht im Spreewald geschworen, in den Westen zu fliehen. Am Morgen werden Til, Sabrina und Karsten von der Stasi wegen geplanter Republikflucht verhaftet, nur Ralf ist verschwunden. Zwanzig Jahre lang gilt er als Verräter, ist Dreh-und-Angel-Punkt im Leben der drei Übriggebliebenen, deren Freundschaft die Verhöre durch die Stasi und die Jahre in Bautzen nicht übersteht. Doch nun enthüllt Ralfs Leiche: Er selbst hat die Nacht der Verschwörung nicht überlebt, wurde ermordet, bevor er seine Freunde hätte verraten können. Verstört kehrt Til nach zwanzig Jahren in seinen Heimatort zurück. Die Geschichte einer Nacht, die Geschichte von vier Leben muss umgeschrieben werden.

Behutsam, fast verhalten führen Thomas Kirchner (Buch) und Kai Wessel (Regie) uns an diese epische Szenerie heran. Das krimiübliche Täterrätsel gerät dabei in den Hintergrund, je mehr wir von den Figuren und ihrem Leben vor und nach der Wende erfahren. Wer sich damals hat verbiegen lassen, wer sich heute noch krumm macht. So ist die Schuldfrage zum Schluss, als der Mörder gefasst wird, längst in ihr Gegenteil verkehrt: Wer hier noch unschuldig ist, bleibt als das wahre ungelöste Geheimnis zurück.

Besonders Sebastian Blomberg („Anatomie“, „Alles auf Zucker“) als Til Desno besticht als Protagonist, dem wir nicht trauen können. In seiner reduzierten Mimik sind immer nur für Sekunden Erregung und Angst gefangen, herausgefordert von den drei Frauen im glänzenden Schauspieler-Ensemble. Anna Loos gibt souverän die Sabrina, deren unendlicher Pragmatismus erst durch die Wiederkehr ihres Exfreundes Til erschüttert wird.

Außergewöhnlich dagegen Claudia Geisler als überspannte Pathologin. Eigentlich soll sie den verdächtigen Desno überführen. Doch angesichts des schönen Arztes kippt ihr ermittlerischer Ehrgeiz schnell in einen libidinösen um. Hilft sie noch bei der Lösung des Falles oder vertuscht sie schon?

Und dann ist da noch der Spreewald. In zurückhaltend stilisierten Bildern macht Kamerafrau Holly Fink aus ihm ein Soziotop, in dem die Wasserläufe die Menschen ebenso verbinden wie trennen. Auf ihnen entlangzufahren, beim heruntergekommenen Hof der Desnos zu halten und zu schauen, wie sich Til in seiner neuen Vergangenheit einlebt, die Einfamilienhaus-Hölle von Ralfs einsamem Vater an der Seite vorbeiziehen lassen – all das bleibt zum Schluss als Möglichkeit und Versprechen zurück. Zu Ende erzählt ist hier noch lange nichts.