Sozialethiker über Hartz-IV-Streit: "Es muss umverteilt werden"

Die Hartz-IV-Debatte verschleiert nur die Notwendigkeit einer Umverteilungsdebatte, meint der Sozialethiker Franz Segbers.

"Jeder muss Zugang zu existenzsichernder Arbeit haben": Jobsuchende in Osnabrück. Bild: dpa

taz: Herr Segbers, nach dem Hartz-IV-Urteil geißelt Guido Westerwelle den angeblichen Sozialmissbrauch. Wie erleben Sie die Diskussion?

Franz Segbers: Ich bin zutiefst erschrocken über die Ressentiments der Besitzenden gegenüber den Besitzlosen. Herr Westerwelle hat bereits auf dem Neujahrsempfang seiner Partei davon geredet, Steuern seien Geschenke der Bürger an den Staat. Wer so über Steuern redet, dem fehlt das Verständnis darüber, wofür ein Gemeinwesen zuständig ist, wie es finanziert und organisiert sein muss.

Arbeitsministerin Ursula von der Leyen sagt, vor allem die Bildungschancen der Kinder von Hartz-IV-Empfängern müssten erhöht werden. Reicht das aus?

Der Gegensatz zwischen Beteiligungsgerechtigkeit - nämlich Teilhabe an Bildungschancen - und Verteilungsgerechtigkeit, existiert so nicht. Geld ist in unserer Gesellschaft so ungleich verteilt wie noch nie. Wer Armut bekämpfen will, kommt um eine Umverteilung von Einkommen, Vermögen und Arbeit nicht vorbei, gerade dann, wenn er in Bildung investieren will.

Welche Verteilungsdiskussion brauchen wir?

Privater Reichtum und öffentliche Armut gehören auf die politische Tagesordnung. Wenn in Deutschland Vermögen und Einkommen wie in Frankreich besteuert würden, hätten wir pro Jahr 66 Milliarden Euro mehr Einkünfte. Bei uns verzichtet die Politik darauf, den Reichtum so heranzuziehen, dass er sich in der Gesellschaft nützlich machen kann. Die Politik erzeugt leere Kassen, die sie als Sachzwang hinstellt. Das Ergebnis ist, dass wir auf einen schlanken Staat hinsteuern, der sich erst arm gemacht hat und dann nicht mehr in der Lage ist, die Dinge für die Bürger zu finanzieren.

Wie sollte die Umorganisation aussehen?

Solange sich diese Gesellschaft als Arbeitsgesellschaft definiert, die also gesellschaftliche Teilhabe und Einkommen an Arbeit bindet, muss jeder Zugang zu existenzsichernder Arbeit haben. Das ist nur möglich, wenn wir die Debatte über eine Arbeitszeitverkürzung wieder aufnehmen. Eigentlich hat die Politik das auch schon verstanden. Sie hat bereits zweimal die Kurzarbeiterregelung verlängert, um Arbeitslosigkeit zu verhindern. Wir haben faktisch in der BRD gerade eine 30-Stunden-Woche.

Wie wollen Sie Gehör finden?

Wir brauchen das Argument der Aufklärung und müssen fragen, wie verwenden wir unser Geld? Denn Geld ist da, so gesehen leben wir unter unseren Verhältnissen. Wir verzichten aber darauf, die ökonomischen Möglichkeiten heranzuziehen, die notwendig wären, um gesellschaftliche Solidarität zu organisieren. Nichts anderes ist oder sollte sozialstaatliches Handeln in unserer Zeit sein. Notwendig ist eine Debatte, welche Aufgabenbestimmung dem Staat zukommt.

INTERVIEW: EVA VÖLPEL

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