piwik no script img

Soziale Entwicklung in BerlinJetzt brennts auch am Stadtrand

Düstere Aussichten: Laut einer Untersuchung verfestigt sich in der Innenstadt die Armut, in den Außenbezirken nimmt sie rasant zu. Schuld sei Hartz IV, sagt der Senat. Opposition: "Faule Ausrede".

Armut hat in Berlin Konjunktur: Während sich die sozialen Brennpunkte in der Innenstadt verfestigt haben, wird nun auch das Leben an den Stadträndern prekärer. In Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg und Spandau haben sich seit 2003 die Lebensverhältnisse deutlich verschlechtert. Dies besagt der "Berliner Sozialstrukturatlas 2008", der am Mittwoch von den Senatsverwaltungen für Soziales und Gesundheit vorgelegt wurde. Es ist nach 1999 und 2003 der dritte Bericht.

Die Erhebung misst anhand von Indikatoren wie Arbeitslosigkeit, Lebenserwartung und Einkommenslage die sozialstrukturelle Entwicklung Berlins. Folgt man dem Bericht, weist diese nach unten. Für Gesundheitssenatorin Katrin Lompscher (Linke) sind dabei vor allem die sinkenden Einkommen ursächlich. Das Nettoeinkommen betrage nur noch 900 Euro - im bundesweiten Vergleich sei das sehr wenig. Die hohe Zahl der 700.000 Sozialleistungsempfänger und die steigende Altersarmut bezeichnete Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (Linke) als "dramatisch". Derzeit leben 179.000 Kinder in Familien, die ihren Lebensunterhalt von Hartz IV bestreiten.

Längst sind diese Tendenzen keine Innenstadt-Phänomene mehr, wie der Leiter der Erhebung, Gerhard Meinlschmidt, bemerkte: "Jeder Bezirk hat inzwischen seine sozialen Brennpunkte." Besonders rasant erfolge der Abstieg in Marzahn-Hellersdorf: Im Bezirksvergleich stürzte er seit 2003 um vier Ränge ab. Hier leben mit 37,6 Prozent die meisten Alleinerziehenden. Im Stadtteil Helle Mitte bezieht fast jeder Zweite ALG II - in der Eichkamp-Siedlung am Grunewald sind es 1,4 Prozent. Laut Bezirksbürgermeister Dagmar Pohle (Linke) seien die Ergebnisse "wenig überraschend, aber nicht bezirksgemacht". Stattdessen sei es ein Resultat aus den jungen Familien, hohen Transferleistungsquoten und günstigen Mieten. "Das betrifft aber nur drei Stadtteile - von den anderen sechs redet kein Mensch", so Pohle.

Hauptproblem bleibt die Innenstadt. Besonders in Mitte und Neukölln haben sich die sozialen Brennpunkte verfestigt und vergrößert. In beiden Bezirken lebt inzwischen jedes zweite Kind in Hartz IV-Haushalten. Die berlinweit am schlechtesten platzierten Quartiere finden sich in der Neuköllner Flughafenstraße und im Schulburgpark sowie in Mitte im Beusselkiez und Gesundbrunnen. "Die Lage dort ist besorgniserregend", so Lompscher.

Immerhin: Es gibt einen leichten Trend zur Verbesserung. Stabilisiert hat sich vor allem Kreuzberg-Friedrichshain. Bildete der Bezirk 2003 noch das Schlusslicht, entwickeln sich heute besonders der Chamisso- und Viktoriapark-Kiez steil nach oben.

Ganz oben auf der Sozial-Skala finden sich laut Meinlschmidt "alte Bekannte": Steglitz-Zehlendorf, Charlottenburg-Wilmersdorf und Treptow-Köpenick. Klarer Aufsteiger ist Pankow: Dank Prenzlauer Berg stieg das Pro-Kopf-Einkommen seit 2003 um berlinweit einmalige 75 Euro.

Für Knake-Werner und Lompscher ist die Bundespolitik schuld an der Entwicklung: "Der Abwärtstrend hat sich seit der Einführung von Hartz IV drastisch verstärkt." Auch die Gesundheitsreform und vermehrte Leiharbeit träfen Berlin besonders hart. Der Senat könne nur im Kleinen gegensteuern: mit der Stützung von Nachbarschaftszentren, dem Berlin-Pass, kostenfreien Kitajahr oder der Schulstrukturreform.

Für die Opposition ist das zu wenig: "Sehr dünn" seien diese Lösungen, so Jasenka Villbrandt (Grünen). Es fehlten eine gezielte Steuerung und Planung der sozialen Infrastruktur. Gregor Hoffmann (CDU) fordert mehr Finanzmittel für die Bezirke: "Die soziale Lage Berlins allein auf Hartz IV zurückzuführen, ist eine faule Ausrede."

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • S
    Schneider

    Der Senat beschließt regelmäßig Mietobergrenzen für die Vermieter und gibt damit die Mieterstrukturen in den Stadtbezirken vor.

  • S
    smeno

    Das ist ja ganz toll, dass sich die Sozialstruktur in Friedrichshain-Kreuzberg verändert hat. Da scheinen ja der Aufschwung und die Arbeitsmarktpolitik gefruchtet zu haben.

     

    ODER: Die Mietpreise sind einfach so gestiegen, dass Leute mit geringem Einkommen woanders hinziehen müssen.

     

    Das gleiche siehe Prenzlauer Berg. Einmalige 75 Euro einkommenszuwachs. Nur nicht bei den selben Leuten wie 2003.

    Ganz schön zynisch.