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Soziale ElternschaftKonzept Kuckuckskind

Bei den Baatombu in Benin ist es Tradition, dass Kinder nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen. Sie werden Pflegepersonen gegeben, die als die "korrekteren" Eltern angesehen werden.

Ich bin dann mal weg: In Baatombu bleiben Kinder nicht lange bei ihren Eltern. Bild: photocase/suze

Herrschaftsverhältnisse bei den rund 600.000 Baatombu, der zweitgrößten Ethnie im westafrikanischen Benin. Mit diesem Thema beschäftigte sich die Ethnologin Erdmute Alber, als sie für ihre Dissertation 1992 bis 1995 bei den Baatombu lebte. Auf dem Gehöft, auf dem sie wohnte, liefen vier kleine Kinder herum. Immer wieder fragte sie, wessen Kinder dies seien. "Unsere natürlich", antwortete der Besitzer des Gehöfts. Doch Alber wollte ihm nicht recht glauben. Sie hatte gelesen, dass es hier üblich sei, die Kinder von Verwandten oder Freunden als eigene zu erziehen. Ethnologen bezeichnen dies als "soziale Elternschaft".

Erdmute Alber ist heute Heisenberg-Professorin für Sozialanthropologie an der Universität Bayreuth. Mit wessen Kindern sie damals zusammenwohnte, weiß sie bis heute nicht. Aber ab 1998 wählte sie soziale Elternschaft bei den Batoombu als Forschungsthema.

Das Phänomen war von starken Tabus umgeben. Über ihre eigentlichen Eltern zu reden, gilt für Pflegekinder als höchst unschicklich, zumal die soziale Elternschaft im Stamm als die "wahre" angesehen wird und die Pflegeeltern somit die "korrekteren" Eltern sind. Alber musste lange ausprobieren, mit welchen Worten und in welchem Kreis dieser Diskurs möglich war. Dabei zeigte sich, wie stark unser europäisches Bild von Elternglück sozial geprägt ist.

Die Vorstellung gemeinsamer Elternschaft eines gemischtgeschlechtlichen Paars ist den Baatombu fremd. Nicht Paare, sondern Personen adoptieren diese Kinder, und zwar Frauen die Mädchen und Männer die Jungen. Man geht davon aus, dass die Kinder so am besten auf ihre späteren Tätigkeiten vorbereitet werden.

Erdmute Alber, heute 45 Jahre alt und Mutter zweier bei ihr lebender leiblicher Töchter im Alter von 12 und 16 Jahren, verstieß gegen diese Tradition, als sie selbst einen Baatombu-Jungen adoptierte. Der studiert heute in Benins Hauptstadt Cotonou. Wenn Kinder von städtischen Pflegeeltern angenommen werden, um dort eine Ausbildung zu absolvieren, spielt deren Geschlecht nicht mehr die Rolle wie früher. Elternglück besteht vor allem darin, dem eigenen Kind die bestmöglichen Zukunftschancen zu verschaffen.

Niemand glaubt, dass ein Kind psychisch Schaden nehmen kann, wenn es von den leiblichen Eltern getrennt wird. In einer Pflegefamilie aufgewachsene junge Leute hält man für lebenstüchtiger, weil Eltern dazu neigten, ihre leiblichen Kinder zu verzärteln. Früher galt das Alter zwischen drei und sieben Jahren als ideal für den Beginn einer Pflegschaft. Ab drei werden die Kinder abgestillt, ab sieben erreichen sie einen Zustand, in dem sie zunehmend als "wissend" gelten. Das heißt, sie begreifen, wie die Welt funktioniert, und werden sich auch über ihre Verwandtschaftsverhältnisse im Klaren.

Traditionellerweise geht das Ansinnen zu solch einem Tausch von den Pflegeeltern aus und darf nicht abgelehnt werden. Wenn den leiblichen Eltern aber die anklopfende Person überhaupt nicht passt, versuchen sie zu mauscheln. Sie behaupten, das Kind sei schon vergeben und besorgen über Nacht eine andere Pflegeperson. Auch wenn man davon ausgeht, dass die meisten Pflegeeltern ohnehin Großeltern, Tanten oder Onkel sind, können die Baatombu so das Gefüge ihrer Verwandtschaft beeinflussen, denn eine Pflegschaft bringt gegenseitige Verbindlichkeiten mit sich.

In der vorkolonialen Zeit wurden die Kinder zwischen entfernteren Verwandten ausgetauscht. Da sich diverse Baatombu-Feldherren untereinander bekriegten, wirkte dies innerhalb der Bevölkerung allzu großer Gewalt entgegen. Zu hoch war das Risiko, bei solch einem Feldzug die leiblichen Eltern oder Geschwister zu erschlagen.

Heute ist die traditionelle soziale Elternschaft im Schwinden begriffen. Während früher über 90 Prozent aller Baatombu bei Pflegeeltern aufwuchsen, sind es in drei von Erdmute Alber untersuchten Dörfern nur noch rund 45 Prozent der Mädchen und 20 Prozent der Jungen.

Obgleich es noch immer den Ruf einer Person stark schädigt, wenn sie ihre Pflegekinder schlechter behandelt als eigene, so zeigt sich in der Statistik ein anderes Bild. Die Ethnologin hat die Daten von 1.024 Kindern ausgewertet: von den Pflegemädchen gingen 9 Prozent zur Schule, dagegen von den bei leiblichen Eltern aufwachsenden Mädchen 21 Prozent. Von den Pflegejungen 36 gegenüber 49 Prozent der übrigen.

Zugleich wächst die Zahl der Kinder, die in Pflegeverhältnisse in die Stadt gegeben werden, um dort Bildung zu erlangen. "Alle mir bekannten Baatombu, die moderne Karrieren gemacht haben, stammen aus städtischen Pflegefamilien", berichtet die Bayreuther Professorin.

Diese neuen städtischen Pflegschaften sind nicht mehr so rigide genormt. Die Initiative geht meist von den ländlichen Eltern aus, die sich heute oft am Unterhalt der Kinder beteiligen - früher war das undenkbar. Die Wissenschaftlerin freut sich: "So macht die Kindspflegschaft die Gesellschaft mobil und wird zu einer neuen Form des sozialen Miteinanders umgebaut."

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6 Kommentare

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  • B
    Ben

    Interessant wäre, zu erfahren, welche faktoren für die genannten Veränderungen sorgen. Ich würde einfach mal vermuten, dass mit steigendem Lebensstandard die emotionale Bindung zwischen Eltern und ihren leiblichen Kindern an Bedeutung gewinnt. Wer etwas zu essen hat, kann sich Gefühle leisten.

     

    Das wäre für jegliche Vergleichsansätze mit unserer Gesellschaft sicher entscheidend, und auch ob wir das übernehmen wollen.

     

    Die Vermutung einer latenten Männerfeindlichkeit bei der Forscherin muss ich auch zugeben, wäre da aber vorsichtig. Jeder, der sich ein wenig mit Bindungs- und Adoptionsforschung beschäftigt wird jedoch sehen, wie absurd es wäre, soziale Elternschaft als gleichartig neben die leibliche zu stellen, auch wenn das manche Verbände im Rahmen der Geschlechterdebatte fordern.

  • M
    Momo

    Die Frage die mich bewegt, ist viel mehr die nach der Intension der Autorin.

    In Bert Brechts Kaukasischen Kreidekreis streiten zwei Mütter um die Elternschaft. Ein weiser Richter zieht einen Kreis und stellt das Kind hinein. Beide sollen nun das Kind aus dem Kreise ziehen, nur wer gewinnt darf das Kind behalten.

    Die liebende Mutter (und es ist in diesem Fall nicht die natürliche) überlässt das Kind der anderen um es nicht zu zerreißen. Der Richter aber spricht der liebenden, loslassenden das Kind zu, also der wie die Autorin abfällig meint der "verzärtelnden".

     

    Wahre Elternschaft ist liebende Elternschaft, sie kümmert sich nicht vorrangig um Karrierechancen der Kinder oder deren Systemverträglichkeit.

     

    Sie geht nicht von einem negativen Freiheitsbegriff der Vermeidung von Zwängen, sondern einem positiven der Entscheidung für Verantwortung aus.

     

    Sicher mag es stimmen dass vorallem Menschen die in ihrer Kindheit nicht genügend Liebe erhielten, sich als Profilneurotiker im beruflichen Leben nach vorne drängen, wer kennt nicht den geistlosen, komplexebehafteten Streber der sich im Klassenverband immer mit wichtigtuerischen Rechthabeleien aufspielte.

     

    Was hier bei dem "nicht verzärteln" mitschwingt, ähnelt verdächtig einer feministisch kämpferischen Riefenstahlästhetik.

    Nicht immer ist faschistisches Gedankengut eindeutig rechts zuzuweisen.

    Und die heutigen Faschos geben sich ganz gerne als Antifas.

     

    Wo Dogmen und Umerziehungsphantasien Übermacht gewinnen, ist der Schritt zur Begrenzung der Freiheit schnell getan. Vorallem der der Privatheit.

     

    Falls so viel Differenz der Geschlechter hier überhaupt erlaubt ist, wo bleibt das Gegenstück zu Klaus Theweleits "Männerphantasien", wo der weibliche Homo Faber (in Gestalt einer Soziologieprofessorin, die Schwangerschaft und Geburt auf eine biologische Fuktion (wie Pinkeln) reduziert und jede innere Transzendenz einer Frau zur Mutter leugnet).

     

    Die subversivste Macht, die sich solchen totalitären Phantasien entgegen stellt, ist aber die Liebe in all ihrer Privatheit.

     

    Gerade sie scheint vom Schreibtisch der weiblichen Weiblichkeitsverleugnerinnen bedroht.

     

    Wir brauchen eine Gleichstellung der Lebensentwürfe und nicht eine Angleichung der Menschen!

  • CR
    christine roelke-sommer

    interessant, solche modelle von familie gibt es also auch! - nicht dass es mich besonders wundern täte, denn ich habe auch schon gehört, dass es irgendwo in usa üblich sein soll, dass familien ihre pubertierenden töchter austauschen (habe vergessen, welche abteilung des christentums es ist, die das praktiziert). - und wie kriegen die das dort mit dem ödipus hin? gibt es den vielleicht garnicht? und welches konzept von männlichkeit und weiblichkeit ist mit einem solchen familienmodell verbunden? und... wie erklärt sich der prozentual geringere schulbesuch von 'pflegekindern'? in welche wirtschaftsform war/ist dies modell eingebettet? sind aus der geschichte der Baatombu kriege bekannt? worum und gegen wen wurden die ggf. geführt? ... fragen über fragen...

  • B
    bernjul

    Eine traditionelle afrikanische Kultur kann man nicht mit unserer modernen Gesellschaft vergleichen. Wer das tut hat etwas Elementares nicht verstanden. Oder glauben Sie das der afrikanische Vater über Jahrzehnte Unterhalt zahlt? Das glaube ich kaum, der geht einfach ins nächste Dorf.

    Ich sehe hier den schwachen Versuch, den Betrug den manche Frauen begehen zu romantisieren und zu beschönigen. Ein Vater der ohne sein Wissen ein fremdes Kind aufzieht oder möglicherweise über Jahrzehnte Unterhalt zahlt, hat ein Recht zu erfahren, dass er betrogen wurde. Ein finanzieller Betrug läge hier in jedem Falle vor. Den emotionalen Betrug kann man in meinen Augen gar nicht ermessen.

  • EO
    Egon Olsen

    Ja natürlich, deshalb sind auch die Baatombu so erfolgreich! Von einem Lebensstandard wie bei ihnen kann der Rest der Welt doch nur träumen. Und erst die gesellschaftlichen Errungenschaften wie das interessante Heiratsalter (für Pädofiele), die tolle Rentenversicherung und das perfekte Gesundheitswesen machen diese Menschen zu absoluten Vrobildern für die Welt.

  • U
    Unbequemer

    Und was soll uns das lehren? Eltern gebt eure Kinder weg? Oder gar der Staat soll den leiblichen Eltern die Kinder wegnehmen?

     

    Mich interessier nicht, was zu diesem Thema in Afrika läuft. Mich interessiert meine Tochter, die ich habe. Und die würde ich niemals hergeben. Wahrscheinlich begeistern sich bei uns besonders kinderlose ZeitgenosInnen für solche Lebensmodelle.