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Sowjetökonomie: Wo die Schattenmärkte blühen...

■ Unter Gaunern und Schiebern leben die „kleinen Fische“ gefährlicher als die „Hechte“ / Hauptspekulationsobjekte: Wodka, Importware, Güter des „Prestigekonsums“

Aus Moskau Alice Meyer

Das Wort vom sterbenden, vom verfaulenden Kapitalismus fehlte früher in keiner seriösen Abhandlung eines Sowjet–Ökonomen über Wirtschaftsprobleme in bürgerlichen Gesellschaften, in imperialistischen Ländern. Fäulniserscheinungen am Wirtschaftskörper der UdSSR und anderer Länder des „realen Sozialismus“ blieben dagegen außerhalb des Blickfelds der offiziellen sowjetischen Wirtschaftswissenschaft. Daran hat sich auch unter Gorbatschow bisher wenig geändert. Ein Redaktionsmitglied der Zeitung Komsomolskaja Prawda, des Zentralorgans des Kommunistischen Jugendverbandes, fahndete kürzlich in den Jahrgängen 1986 und 1987 aller wirtschaftswissenschaftlichen Fachjournale der UdSSR nach Beiträgen über das Problem der Spekulation und anderen Formen der Wirtschaftskrininaltität. In der Ausgabe des Blatts vom 4. Mai 1988 meldete es enttäuscht Fehlanzeige: Kein Forscher war diesem delikaten Thema nähergetreten. Redakteur Woschtschanow: Über den „Schattenmarkt“ im Sowjetland habe er das erste Mal aus ausländischen Quellen erfahren - vor etwa zehn Jahren. Anlaß der Suchaktion war der Brief eines Fabrikarbeiters aus Rjasan an die Komsomolskaja Prawda. Zeilen voller Enttäuschung und Hilflosigkeit. Der Arbeiter: „Jetzt wird viel geredet über jene Mißbräuche in unserem Wirtschaftsleben, die in der jüngsten Vergangeheit vorgefallen sind. Aber was ist heute anders? Es wäre zum Beispiel interessant zu wissen, ob es die Geschäftemacher des Schwarzmarkts schwerer haben als früher. Nach dem Verhalten der Spekulanten zu urteilen, haben sich die Dinge für sie zum Besseren gewendet. In der Menge der Genossenschaftsbauern und Privaten auf den Märkten fühlen sie sich offenbar ausgezeichnet. Das, was früher heimlich gemacht wurde, in dunklen Eingängen und Treppenfluren, geschieht heute vor aller Augen... Wie kann der Schattenmarkt bekämpft werden? Oder wollen die Verantwortlichen ihn nicht sehen?“ Der „Schattenmarkt“ hat viele Spielarten in der UdSSR. Kleine und große Warenschiebereien unter dem Ladentisch oder in den Hinterzimmern der Geschäfte, spekulative An– und Weiterverkäufe „defizitärer“ Güter, Unterschlagungen und Umlenkungen von Warenströmen im Großhandel, Schmiergeldzahlungen mit Staatsknete im Geschäftsverkehr innerhalb der verstaatlichten Industrie (mit dem Ziel, an dringend benötigte Maschinen und Materialien heranzukommen), Hehlereien von veruntreutem oder gestohlenem „Volkseigentum“... Die Miliz ist machtlos, desinteressiert oder - auch das soll an der Tagesordnung sein - bestechlich. Leitende Staatsanwälte klagen über den verbreiteten Mangel an sachkundigen Ermittlern „vor Ort“. Die Justiz beschäftigt sich vorzugsweise mit den leichteren Fällen. Seit der „Breschnew– Ära“ ist die strafrechtliche Ahndung der Schwerkriminalität im Wirtschaftsleben vor allem deshalb schwierig, weil oft einflußreiche Hintermänner, Beschützer und Gönner im Spiel sind. Vom Chef–Ökonom der Moskauer Wirtschaftsführung, Abel Aganbegjan, war auf einer Pressekonferenz zu erfahren, daß der Kampf gegen die Schattenwirtschaft eigentlich nur darin bestehen könne, alles daranzusetzen, daß eine „schrittweise Liquidierung der Warendefizite“ gelingt. Spekulation - das hat es im So wjetstaat schon immer gegeben. Die Spekuklationsobjekte unterlagen indessen historischem Wandel. Im Jahre 1923 soll sich die Bevölkerung rund die Hälfte des im Lande konsumierten Brotes auf dem Schwarzmarkt beschafft haben. Der professionelle Spekulant von heute handelt in der UdSSR mit anderen Waren: er ist - bei verhältnismäßig billigen öffentlichen Verkehrsmitteln - oft landesweit tätig und betreibt den An– und Verkauf von Waren des gehobenen Bedarfs (darunter von Einfuhrerzeugnissen wie Unterhaltungselektronik, Möbeln, Autos, Bekleidung, Delikatessen). Ein Drittel des Schwarzmarkt–Umsatzes entfällt nach einer Schätzung der Strafverfolgungsbehörden allein auf das „Alkohol–Business“. Spekuliert wird auch mit Waren des Grundbedarfs, die infolge von Planungfehlern oder Mängeln im Verteilungsnetz mal hier, mal da, mal fast überall knapp sind. Leute, die daran verdienen wollen, lesen aufmerksam Zeitung und verschmähen auch die Provinzpresse nicht, weil dort meist offener, genauer und vor allem aktueller über örtliche Versorgungsengpässe berichtet wird als in der Prawda und den anderen Zeitungen der Zentralverlage. Bisweilen unterhalten Spekulantenringe ein ganzes Netz bezahlter Informanten. Michail Jegorow, Abteilungsleiter in der „Hauptverwaltung für den Kampf gegen Unterschlagungen sozialistischen Eigentums und Spekulation“ beim Innenministerium bringt diesen Zusammenhang auf den Begriff: der gewöhnliche Täter vor Ort sei heute nur ein „Stein im Fundament einer ganzen Pyramide des verbrecherischen Business“. Allein auf dem Baustoffsektor wird der Reingewinn, der jährlich in die Taschen von Dieben, Hehlern und Schiebern fließt, von amtlicher Seite auf die runde Summe von 400 Millionen Rubel (das ist gut eine Milliarde Mark) geschätzt. Bei Schuhen und Bekleidung werden - wiederum nach offizieller Schätzung - etwa 15 Prozent der Gesamterzeugung über Spekulanten vermarktet (darunter Kinder– und Jugendbekleidung: 25 Prozent). In Armenien, Aserbaidshan und Georgien sowie in Mittelasien gelangen im Schnitt 50 Prozent aller Importwaren in Spekulantenhände. Der einfache Sowjetbürger erschrickt, wenn er in der Presse von einzelnen Fällen gigantischer spekulativer Bereicherung (die bei manchen Geschäftsoperationen das Zig–, ja Hundertfache eines durchschnittlichen Monatseinkommens von 200 Rubeln ausmachen können) erfährt. Er rätselt, ob es dem Handel vielleicht an „materiellen Anreizen“ mangelt, das Versorgungsnetz ohne das Dazwischentreten von Spekulanten dichter zu knüpfen und örtliche Warenknappheit schneller zu beseitigen. Und er ahnt, daß sich die Moskauer Wirtschaftsführung hierzu noch einiges wird einfallen lassen müssen. Vorläufig steigt das Spekulationsfieber in der Sowjetunion. Die Behörden berichten von eindeutigen Trends. Allein im Laufe der letzten fünf Jahre sollen die aufgedeckten Fälle von Wirtschaftsstraftaten (nur Straftatbestand „Spekulation“) um 30 Prozent angestiegen sein.

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