: Soundtrack aus Wiese
In Ben Shattucks „Geschichte des Klangs“ machen sich zwei junge, verliebte Männer Anfang des 20. Jahrhunderts auf, um amerikanische Folksongs zu sammeln

Von Yannic Walter
Ben Shattucks „Geschichte des Klangs“ ist ein schönes, leises Buch. Es ist außerdem ein kurzes Buch, denn in bester amerikanischer Tradition entspinnt sich diese Erzählung auf nur 100 Seiten und umspannt dabei trotzdem mehr als 60 Jahre, ein ganzes Leben. Es ist die Geschichte einer im Strudel der Zeit verklingenden Liebe, erzählt vom Ersten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre, eine Liebe, die es aufgrund eines Schicksalsschlags nur einen Sommer lang gibt – und die einen der Protagonisten doch bis ans Ende seines Lebens verfolgt.
Lionel und David, zwei Musikstudenten, lernen sich kurz vor Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg kennen und lieben. David ist Synästhetiker und musikalisches Wunderkind und erhält den Auftrag, Neu-England zu bereisen, um Folksongs mit einem Phonographen auf Wachszylinder aufzunehmen und so für die Zukunft zu konservieren. Gemeinsam bereisen Lionel und er die endlosen Wälder und Wiesen Massachusetts und Maines auf der Suche nach Folkballaden und Ungestörtheit. „Mein Großvater hat mal gesagt, dass Glück keine Geschichte ist“, bemerkt Lionel beim späteren Schreiben über diesen Sommer und ein bisschen krankt auch der erste Teil von Shattucks Novelle daran. Verdächtig harmonisch geht es in dieser queeren Liebesgeschichte zu, große Konflikte sind rar, auch die folkloristischen Feldstudien spielen nur eine Nebenrolle. Denn um was es hier geht, wird erst im zweiten Teil der Geschichte klar.
Viele Jahre später, in den 1980er Jahren, schaut Annie, eine Biologin, eine abendliche Talkshow. Ein Musikwissenschaftler stellt sein neues Buch zur Geschichte der amerikanischen Folkballade vor. Es braucht nicht viel kombinatorisches Geschick, um zu erkennen, dass es sich hierbei um Lionel handelt, der inzwischen als Folklorist Karriere gemacht hat. Annie und ihr Mann haben kürzlich ein neues Haus bezogen und genau: Auf dem Dachboden findet Annie die vergessenen Wachsrollen und alles fügt sich schicksalhaft zusammen. Die Wachsrollen funktionieren als eine Art tschechowsche Waffe oder novellenartiges Leitmotiv, ein Totem der Erinnerung: Diese Geschichte handelt von der vorbeieilenden Zeit, der Beliebigkeit des Lebens, der stets der menschliche Wunsch nach kausaler Ordnung und Bewältigung von Kontingenz entgegensteht. Es geht um die Zeit als Wunde, die nichts zu heilen vermag, sondern einen immer wieder mit all den Leben konfrontiert, die man nicht gelebt hat. Die Wachsrollen erinnern Lionel an den Sommer mit David, gleichzeitig fungieren sie als großes Memento mori, das über die Unveränderlichkeit der Natur und unbelebter Objekte zum Ausdruck kommt.
Ein wenig ideal liest sich das schon, denn in Ben Shattucks „Geschichte des Klangs“ gibt es wenig Dissonanzen. Man merkt, diese Sätze gingen durch die Politur des Iowa Writers Workshops, dessen Absolvent Shattuck ist: Hier wurde gefeilt und begradigt, geleimt und gelackt. Shattuck, dessen erstes Buch sich mit den Wanderungen von Henry David Thoreau durch Neu-England beschäftigt, hat mit „Geschichte des Klangs“ ein Werk vorgelegt, das selbst in der Tradition der Transzendentalisten steht. Doch anders als seine transzendentalen Vorreiter findet Shattuck in der Natur keine Manifestation des Göttlichen, sondern die Gestalt des Menschen an sich. Wie ein Soundtrack liegen die Wälder und Wiesen, zahlreichen Pflanzen und Tiere unter der Geschichte, machen Stimmungen, Beziehungen und Subtexte deutlich. Alles ist durchdrungen von einer tiefen Traurigkeit. Denn dem Fortschreiten der Zeit sind wir ultimativ ausgeliefert und nichts – nicht einmal das Festhalten von Stimmen und Klang – vermag daran etwas zu ändern.
Ben Shattuck: „Die Geschichte des Klangs“. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser, München 2025. 104 Seiten, 20 Euro
Die amerikanische Originalausgabe enthält übrigens noch zehn weitere Kurzgeschichten und es ist einigermaßen schade, dass sie offenbar den Eigenheiten des deutschen Buchmarkts zum Opfer gefallen sind. Die deutsche Ausgabe beschränkt sich auf die erste und letzte Geschichte, die im Original Anfang und Ende des Erzählbandes bilden. Was verloren geht, ist die spannende Form, mit der Shattuck diese Geschichten nach einer im 18. Jahrhundert beliebten „Hook and Chain“-Dramaturgie angeordnet hat. Nach dem Schema A BB CC DD A bilden jeweils zwei Geschichten ein Bedeutungspaar und werden wiederum von einem Paar eingeschlossen. Manchmal sind es wiederkehrende Figuren, doch meist sind es Orte oder Gegenstände, die wiederkehren und ein dichtes Netz umspannen, das im Original über 400 Jahre einschließt und virtuos zwischen historischen und zeitgenössischen Settings wechselt.
Auch wenn die beiden ausgewählten Storys in der deutschen Ausgabe von „Geschichte des Klangs“ diese Dramaturgie selbst verdichtet erhalten, so versteht man Shattuck kaum, wenn man nur diese beiden Geschichten liest. Shattucks Storys sind zwar historisch verortet, es geht aber stets um universelle, zeitlose Themen, oftmals von existenzieller Natur. Es geht um Gegenwärtiges, das nur im Gewand des Historischen daherkommt. Es ist zu hoffen, dass die im Februar 2026 hierzulande in die Kinos kommende Verfilmung (mit Literaturverfilmungsdarling Paul Mescal) sich eher dem Transzendentalen des Stoffes widmet, anstatt ein „Brokeback Mountain für die Generation Z“ abzugeben, wie an anderer Stelle schon kritisch bemerkt wurde.
Schon die Entscheidung des Verlags, ein mit KI generiertes und einigermaßen kitschiges Foto für das Buchcover auszuwählen, lässt Ungutes erwarten – dabei stammt das Drehbuch von Shattuck selbst. Als Verfechter von künstlicher Intelligenz kann man sich den Autor derweil kaum vorstellen. Neben der Tätigkeit als Autor und Kurator betreibt Shattuck mit seinem Bruder nämlich seit einigen Jahren den ältesten General Store ganz Massachusetts im beschaulichen Dartmouth – durchgehend geöffnet seit 1793 und inzwischen um Buchhandlung und Kunstcafé erweitert. Viele von Shattucks Charakteren sind Künstler*innen, Schriftsteller*innen oder sind zumindest auf eine künstlerhafte Weise der normativen Welt entrückt. Es geht auch um die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben, finanzielle Schwierigkeiten, die künstlerische Produktion unmöglich machen. Das kitschige, dahergepromptete Cover verkennt dies alles und man hat es – wie bei den Buchumschlägen von Elena Ferrantes Neapelromanen – mit einem Etikettenschwindel zu tun, der Werk und Autor*in nicht gerecht wird.
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