Sorge um die israelischen Geiseln: Angst ist stärker als Hass
199 Geiseln befinden sich derzeit im Gazastreifen. Angehörige wollen, dass ihre Befreiung oberste Priorität hat.
TEL AVIV taz | Shira Albag steht auf der Tel Aviver Kaplanstraße nahe dem israelischen Verteidigungsministerium und will Antworten. „Wir wissen nicht, was die Regierung tut, wir wollen, dass jemand mit uns spricht“, sagt sie und hält ein Foto ihrer Tochter in Richtung der vorbeifahrenden Autos. Neben ihr stehen einige Dutzend Protestierende. Die 18-jährige Liri Albag war als Wehrdienstleistende nahe der Grenze zu Gaza stationiert, als vor gut einer Woche Hunderte bewaffnete Hamaskämpfer einen brutalen Überfall auf Dörfer und ein Musikfestival begannen.
Lange wussten Shira Albag und Hunderte andere nichts über ihre vermissten Freunde und Verwandte. Am Montag nannte Israels Armeesprecher Daniel Hagari schließlich eine Zahl: Seit dem Hamas-Anschlag seien die Familien von 199 Geiseln darüber informiert worden, dass ihre Angehörigen in den Gazastreifen verschleppt worden seien. Bisher war man von rund 150 Entführten ausgegangen.
Unklar ist aktuell, inwiefern die vielen Geiseln in dem Küstenstreifen sich auf die Planung der israelischen Luftangriffe auf Gaza sowie eine erwartete Bodenoffensive auswirken. „Unsere Angriffsziele basieren auf Geheimdienstinformationen“, sagte Armeesprecher Hagari. Die Entführten zurückzuholen habe „oberste Prioriät“. Man wisse genau, was man dort angreife, nämlich Infrastruktur der dort herrschenden Hamas und ranghohe Mitglieder der Organisation. Man werde keine Angriffe fliegen, „die unsere Leute in Gefahr bringen“.
Shira Albag und die Menschen auf der Mahnwache wollen sich darauf nicht verlassen. „Ich bin hier, damit die Regierung uns sieht und damit die Befreiung der Geiseln oberste Priorität bleibt“, sagt sie. Ein junger Demonstrant wirft ein: „Wir vertrauen darauf, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen, aber wir wissen gerade nicht, ob ihnen wichtiger ist, die Hamas zu zerstören oder die Gefangenen dort rauszuholen.“
Israel postet Fluchtroute
1.400 Israelis wurden bei dem beispiellosen Anschlag der radikalislamischen Hamas getötet, die meisten von ihnen Zivilisten. Mehr als 2.750 Palästinenser starben bei israelischen Angriffen auf den Gazastreifen. Unter den Toten dort sollen auch israelische Geiseln sein, verkündete die Hamas. Diese Angaben konnten jedoch nicht unabhängig überprüft werden. Israelische Soldaten hatten bei Vorstößen in den Küstenstreifen am Freitag nach Armeeangaben mehrere Leichen entführter Israelis geborgen.
Die Staats- und Regierungschefs aller 27 EU-Länder forderten eine „sofortige und bedingungslose“ Freilassung aller Geiseln. Der Jerusalemer Kardinal Pierbattista Pizzaballa bot an, sich selbst im Austausch gegen die minderjährigen Gefangenen in die Hände der Hamas zu begeben.
Die israelische Armee wiederholte am Montagmorgen auf der Plattform X die Aufforderung, das Gebiet zu verlassen, und veröffentlichte eine Route, die bis zum Vormittag nicht angegriffen werden sollte. Die UNO und Menschenrechtsorganisationen hatten den Aufruf zuvor kritisiert und warnen vor einer humanitären Katastrophe.
Leser*innenkommentare
Ajuga
"aber wir wissen gerade nicht, ob ihnen wichtiger ist, die Hamas zu zerstören oder die Gefangenen dort rauszuholen."
Naja, dass in einer Woche mehr hochrangige Hamas-Kommandanten getötet wurden, als in all den vorangegangenen Jahren, zeigt doch ziemlich deutlich die Prioritäten.
Und es wirft die Frage auf, warum das nicht schon längst geschah, denn jetzt, wo die Terroristenführer mit Angriffen rechnen, ist ihr Aufenthaltsort schwerer zu ermitteln.
Da es aber dennoch evident *möglich* ist, *hätte* die Hamas schon längst - spätestens nach der Eskalation in diesem Frühling - wenn nicht komplett dann doch weitgehend ausgeschaltet werden *können*, *wenn* Netanyahu et al es denn *gewollt* hätten.