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Sol y SombraNebiolo hat null Chance

■ Wie ich völlig überraschend einmal Weltmeister im 100-Meter-Lauf wurde

„Hey, du da“, brüllte eine herrische Stimme direkt hinter mir. Ich drehte mich um und sah einen kleinen, dicken, ziemlich vierschrötig wirkenden Mann. „Du da, glotz nicht so blöd, beweg deinen Arsch hier rüber.“ Der rüde Bursche, den ich inzwischen zweifelsfrei als Primo Nebiolo, Gebieter über alle Leichtathleten und -Innen identifiziert hatte, war deutlich ungehalten. Mit einem Blick, der selbst einen Hammerwerfer in die Knie gezwungen hätte, sah er mir direkt in die Augen. „Bist du fit?“, raunzte er und musterte mit kritisch gerunzelter Stirn meine äußere Erscheinung. Ich dachte kurz an die letzten Trainingseinheiten der taz-Fußballmannschaft und schüttelte heftig den Kopf. Nebiolo wiegte den seinen, wechselte einen resignierten Blick mit dem neben ihm stehenden Helmut Digel, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), winkte geringschätzig ab und sagte: „Na, für 100 Meter wird's schon reichen.“

„Was wird für 100 Meter reichen, o gnadenloser Athletenfürst?“, fragte ich, Böses ahnend. „Du startest heute abend im 100-m-Finale“, antwortete er mit maliziösem Unterton. Wie sich herausstellte, war der größte Teil der qualifizierten Sprinter nach positiven Dopingproben aus dem Verkehr gezogen worden, die anderen hatten sich abgemeldet, als das Gerücht die Runde machte, beim Finale solle erstmals ein Test verwendet werden, mit dem man künstlich zugeführte Hormone entdecken könne. Weltrekordler Maurice Greene wiederum hatte seine Karriere kurzfristig beendet und ein lukratives Angebot der Stadtverwaltung von Sevilla als Streifenpolizist angenommen. „Wenn ich noch ein paar Räuber fange, nimmt man vielleicht auch mal in meiner Heimat von mir Notiz“, freute sich der US-Amerikaner.

Das half mir allerdings nicht weiter. Unauffällig checkte ich die Fluchtwege ab, sie waren alle gut bewacht von Präsidenten verschiedener nationaler Leichtathletikverbände. Digel grinste hämisch. „Keine Chance“, sagte er, „wen Primo erst mal in den Fingern hat, den quetscht er aus wie das tapfere Schneiderlein seinen Käse. Sagt selbst Samaranch.“ Ich gab auf. Weltmeister über 100 Meter – das ist so übel nicht. „Okay, ich bin dabei“, erklärte ich. Nebiolo lächelte. Aber es war kein fröhliches Lächeln.

Ein paar Stunden später justierte ich meinen Startblock – vor 60.000 Zuschauern, die nicht gerade erbaut waren über den Personalwechsel und dies deutlich kundtaten. Sie würden noch staunen. Unauffällig musterte ich meine Gegner. Auf der Innenbahn hatte sich Primo Nebiolo – italienischer Macho, der er ist – trotz seines angegriffenen Gesundheitszustandes selbst nominiert. Er probierte einen Tiefstart und schnaufte danach wie ein angeschossener Triceratops. Der würde mir nicht gefährlich werden. Die nächsten drei Bahnen waren von deutschen Kollegen belegt, die Nebiolo auf der Pressetribüne gekidnappt hatte. Am Abend zuvor war mir das Trio in der Hotelbar aufgefallen, weit davon entfernt aufzubrechen und in keinem guten Zustand. Allemal besser allerdings als jetzt. Keine Gefahr für meine Titelchancen.

Dann kam ein drahtiger Reporter von der Gazzetta dello Sport. Er sah schnell aus, aber an den gelben Fingern erkannte ich, dass er Kettenraucher war, wie es sich für einen italienischen Journalisten gehört. Sorgen machte mir der Typ neben ihm. Der sah tatsächlich aus wie ein Sprinter, schwarz, athletisch, siegesgewiss. Nun gut, dann eben Silber. Direkt neben mir hockte fluchend Helmut Digel. Nebiolo hatte ihn auch gekriegt. „Nach 25 Metern simuliere ich eine Zerrung“, grummelte er. Ich redete ihm zu.

Startschuss. Der Sprinter war kurz zuvor von einem Kampfrichter diskret beiseite gewinkt worden. Nebiolo kam nicht aus dem Startblock, Digel stieg humpelnd aus, das deutsche Trio fiel schnell zurück. Gazzetta lag in Führung, eindeutig auf Goldkurs. 20 Meter vor dem Ziel griff ich zum letzen Mittel. „Marlboro“, brüllte ich. Gazzetta bekam einen Hustenanfall, und ich war Weltmeister. Die Arena tobte.

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich natürlich längst, dass das Ganze bloß ein Traum war. Wie ich das gemerkt hatte? Jeder weiß doch, dass Nebiolo in Wirklichkeit kein Wort deutsch spricht. Matti Lieske

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