Sol y Sombra: Laufen ohne zu sehen
■ Die blinde Läuferin Marla Runyan will heute ins WM-Finale über 1.500 Meter
Wenn heute Abend bei der Leichtathletik-WM der erste Halbfinal-Lauf über 1.500 m gestartet wird, ist eine Athletin mit von der Partie, die mehr Goldmedaillen und Weltrekorde hat als jede andere Läuferin im Feld. Das bedeutet aber nicht, dass ihre Qualifikation für das Finale schon gesichert wäre. Marla Runyan ist offiziell blind, und die meisten ihrer großen Erfolge feierte sie bei den Paralympics, wo sie zum Beispiel 1992 in Barcelona Gold über 100 m, 200 m, 400 m und im Weitsprung gewann. Die Teilnahme an den Wettkämpfen der Behinderten genügte der US-Amerikanerin jedoch nicht. „Ich möchte mein gesamtes Potential ausschöpfen und herausfinden, was ich erreichen kann“, nahm sich die Athletin vor, die als Hochspringerin begann, dann als Siebenkämpferin unter anderem gegen Jackie Joyner-Kersee antrat und sich schließlich auf die Mittelstrecken spezialisierte.
Bis zu ihrem neunten Lebensjahr spielte Runyan Fußball, doch dann wurde sie von einer Augenkrankheit befallen, die ihre Sehkraft rapide verschlechterte. Heute kann die 30-Jährige, die in Eugene, Oregon, an einer Schule für blinde und taube Kinder unterrichtet, zwar Formen, Farben und Schatten erkennen, aber keine klaren Konturen. „Was direkt vor mir ist, verschwindet in einem Loch.“ Als Athletin bedeutet das, Hürden zu überspringen, ohne sie genau zu sehen, Hochsprung zu betreiben, ohne die Latte zu erkennen, und zu laufen, ohne die Konkurrentinnen unterscheiden zu können. Vor einem Rennen pflegt sich Runyan die stärksten Läuferinnen herauszusuchen und sich deren Kleidung sowie Haartrachten einzuprägen, um sich an ihnen orientieren zu können. Eine Taktik, die kürzlich bei den Panamerikanischen Spielen in Winnipeg, wo sie überraschend das 1.500 m-Finale gewann, bestens funktionierte. Da hatte eine der Favoritinnen einen Pferdeschwanz.
Bei den US-Meisterschaften wurde Runyan zwar nur Vierte, weil zwei der vor ihr platzierten Läuferinnen jedoch die WM-Norm von 4:08 Minuten noch nicht unterboten hatten, konnte sie sich endlich den Traum der WM-Teilnahme erfüllen, der 1997 wegen einer Verletzung geplatzt war. Finanziert werden ihre Wettkampfreisen von der „US-Vereinigung blinder Athleten“, in deren Diensten sie häufig Vorträge hält. Sie selbst pflegt ihr Handicap komplett zu ignorieren. „Manchmal denke ich, sie merkt nicht mal, dass sie behindert ist“, sagt ihr Vater. Sie liest Zeitung mit der Lupe und fährt sogar Auto. Dazu befestigt sie ein teleskopartiges Spezialgerät an ihrer Brille, fährt aber nur tagsüber und auf Straßen, die sie gut kennt. Ihr College-Coach berichtet, dass die Behinderung beim Training nur einmal zur Sprache kam, als er ihr vorschlug, Hürdenlauf zu probieren. „Großartig“, habe sie geantwortet, „weißt du nicht, dass ich blind bin?“ Sie versuchte es trotzdem und schaffte es, einen Rhythmus zu entwickeln, der ihr erlaubte, die Hürden im wahrsten Sinne des Wortes blind zu überspringen. „Für die Leichtathletik braucht man Herz und Stärke“, lautet Runyans Credo, „das Augenlicht braucht man nicht.“ Bedauerlich findet sie es, dass sie nie ein Meeting als Zuschauerin erleben kann. „Ich würde gern sehen, was ich verpasse.“ Wo sie am liebsten wäre, wenn am Sonntag das 1.500 m-Finale stattfindet, ist keine Frage. Irgendwo an der Spitze des Feldes, den schemenhaften Blondschopf von Svetlana Masterkowa vor Augen. Matti
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