Social-Business-Magazin "Enorm": Sein Job kotzte ihn an
Thomas Friemel war Chefredakteur eines Lifestylehefts mit Umfragen zu Fremdgeh-Sex. Nun macht er auf eigenes Risiko das ökosoziale Wirtschaftsmagazin "enorm". Was ist passiert?
Es war drei Uhr nachts und Thomas Friemel saß im Büro und redigierte Texte für eine Kundenzeitschrift. Am Telefon hatte er die Marketingtante des Kunden, die ihm erklärte, wo sie im Sinne einer optimalen Unternehmenskommunikation gern noch ein Komma zusätzlich hätte. Und er dachte: "Friemel, was tust du hier bloß?" Er ging zu einem Coaching. Nachdem er zwanzig Mal "Mein Job kotzt mich an" gesagt hatte, riet ihm der Coach, seine Arbeit zu akzeptieren oder zu handeln.
In dieser Woche hat Friemel, 42, im Social Publish Verlag die erste Ausgabe des Wirtschaftsmagazins enorm herausgebracht. Er ist einer von fünf Gründern und Gesellschaftern. Dazu gehören auch Art-Director Carsten Hermann und Geschäftsführer Alexander Dorn. Alles Medien-Vollprofis. Enorm ist der erste Magazintitel, der sich der neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bewegung des "Social Business" widmet. Das meint innovative, nachhaltig wirtschaftende Unternehmen, deren Existenzzweck "Social Profit" ist, die Lösung gesellschaftlicher Probleme. Und die trotzdem in der Lage sind, sich wirtschaftlich selbst zu tragen. Gottvater der Branche ist Nobelpreisträger Muhammad Yunus. Der Wirtschaftswissenschaftler aus Bangladesch will den Kapitalismus nicht überwinden, sondern ihn mit Hilfe von Sozialunternehmen zukunftsfähig machen. Mit seiner Idee der Mikrokredite hat er es in Bangladesch vor allem auch Frauen ermöglicht, Kleinunternehmerinnen zu werden und damit ihre Familien zu ernähren. Ein deutsches Social Business ist zum Beispiel das Berliner Dienstleistungsunternehmen Pegasus, das Menschen mit Handicaps beschäftigt, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance hätten. Die Leute bewähren sich bei Pegasus unter Marktbedingungen und schaffen es von dort aus in die normale Wirtschaft.
Enorm will das Leitmedium der sozial und ökologisch nachhaltigen Ökonomie sein und die bereits existierende Szene des ethischen Wirtschaftens deutlich erweitern. In Deutschland und mit einer englischsprachigen Ausgabe auch darüber hinaus. Das Büro liegt in der Hamburger Otzenstraße, zwischen Schanze und Reeperbahn. Die Berliner Dependance ist in Kreuzberg. Die Kommunikation läuft per Skype, die Stimmung ist prächtig. Es herrscht echte Gründereuphorie. Friemel trägt Millimeterhaarschnitt und Schal. Er geht jetzt wieder gern zur Arbeit. Das Wort "Sinn" benutzt er als Begründung mehrfach.
Dies ist ein Text aus der sonntaz, die am 20. März erscheint – unter anderem mit einem Interview mit drei Menschen, die Terroristen gewesen sein sollen und dem Lebenswerk eines Baumsammlers. Das alles zusammen mit der aktuellen taz ab Samstag am Kiosk
Ziel: Lösung gesellschaftlicher Probleme durch ein Unternehmen, das am Markt seine Kosten selbst erwirtschaftet und profitabel ist. Der Profit verbleibt weitgehend im Unternehmen bzw. wird dem Unternehmensziel zugeführt.
Semantik: Der Begriff "gutes Geschäft" wird neu besetzt.
Personen: Muhammad Yunus Grameen-Bank hat die zinsfreien Mikrokredite für Arme erfunden, die eine Geschäftsidee haben, aber keine Sicherheiten. Grameen macht auch Joint-Venture-Social-Businesses, etwa Grameen Danone Foods, das in Bangladesch einen kostengünstigen, nährstoffreichen Joghurt produziert. Hans Reitz leitet das Grameen Creative Lab und verbreitet Yunus Ideen in Deutschland. Peter Spiegel leitet das Genisis Institute for Social Business and Impact Strategies, das sich der Implementierung von Social Business in Wirtschaft und Gesellschaft widmet.
Geld kommt von "sozial orientierten Investoren", sagt Friemel. Ein Großverlag kam qua Definition erst gar nicht in Frage. Bisher gibt es keine Festanstellungen, sondern nur Honorarbeschäftigung. Enorm will das Magazinthema selbst leben und etwaige Gewinne im Unternehmen belassen sowie in soziale Projekte stecken. Die Abonnenten werden auch einbezogen: 15 Prozent des Abopreises geht an Social-Business-Projekte. Im Moment sind es drei. Eins soll Armen in Haiti Kredite ermöglichen, eins vergibt Stipendien an blinde Unternehmer in Indien, eins bereitet Jugendliche in Deutschland über die aktive Einbindung in Theaterspiele auf das Berufsleben vor.
Mit seinem Bedürfnis, eine befriedigende Arbeit in einem okayen Unternehmen zu tun und Lebensparameter wie Erfolg, Karriere und Sinn neu zu justieren, ist Friemel repräsentativ für einen Teil der Gesellschaft. Enorm wendet sich explizit an jene, die "an eine Veränderung der Gesellschaft glauben und daran arbeiten wollen". Eine ungeklärte Frage ist: Wie groß ist dieser Teil? Und wie viele davon übernehmen bei allem Unbehagen inmitten realer und gefühlter Krisen tatsächlich selbst die Verantwortung für eine Veränderung?
Der Vision Summit 2009, "Gipfel der sozialen Unternehmer", hatte 1.200 Teilnehmer. Summit-Veranstalter Peter Spiegel sagt, die Zahl der Menschen in Deutschland, die "positiv vom Social-Business-Gedanken infiziert sind", sei "weit im fünfstelligen Bereich". Spiegel leitet das Berliner Genisis-Institut, eine Art Think-Tank der Bewegung. Diese speise sich aus einer zeitbedingten, teilgesellschaftlichen "Abwendung von der Gier-Orientierung", leide aber unter dem entstandenen Angstklima. "Das ist definitiv innovationshemmend. Deswegen ist es so wichtig, dass es jetzt rasch viele positive Beispiele auch bei uns gibt. Social Business muss als Chance auch für Deutschland erlebt werden und nicht nur für Bangladesch bis zu den Vereinigten Staaten, sonst hat es bei uns keine lange Lebenszeit." Bei enorm gehört Spiegel einem Beratungsgremium an.
Bevor Thomas Friemel enorm gründete, war er unter anderem auch Chefredakteur des mittlerweile eingestellten Männer-Lifestyle-Magazins Player. Da publizierte er Umfragen, nach denen Frauen beim Fremdgehen besseren Sex zu haben glaubten. Nun macht er Geschichten über den Boom ethischer Banken in der Finanzkrise.
Das Heft kommt sehr aufgeräumt, klar und ernsthaft daher. Kein optischer Schnickschnack und keine Hollywoodstars, die die Welt retten. Mit der Charity-Philosophie müsse Schluss sein, findet Friemel. Mit Tränendrüsen-Berichterstattung auch. Auch auf "lifestylige Elemente" hat man bewusst verzichtet. Es geht um "Veränderung hier". Dafür gibt es einen Serviceteil mit einem detaillierten Business Case, der abstrahierbar ist, so dass ein Leser ihn auf ein eigenes Sozialunternehmensszenario übertragen kann.
Friemels Ziel ist es, journalistisch auf brand-eins- und Spiegel-Niveau zu agieren. Aber er ist lange genug dabei, um zu wissen, dass journalistische Qualität sich nicht von selbst durchsetzt, sondern dann, "wenn Luft unter die Flügel kommt", also wenn die potenziellen Leser tatsächlich mitkriegen, dass es da etwas für sie gibt. Da der Kioskverkauf für den Erfolg längst nicht mehr die entscheidende Rolle spielt, es große Werbebudgets logischerweise nicht gibt - und das in einem solchen Fall vielleicht auch nicht die richtige Methode ist -,versucht man über das Knüpfen von Netzwerken, alternative Vertriebswege und Partnerschaften, direkt an die potenziellen Zielgruppen heranzukommen.
Gibt es die Marktlücke tatsächlich? Friemel und sein Team glauben logischerweise daran, sonst wären sie nicht aus ihren bisherigen Wohnorten nach Berlin aufgebrochen und hätten dort monatelang in einer leeren Wohnung auf Matratzen kampiert. Konventionelle Wirtschaftsmagazine schwächeln, auf der anderen Seite steht bisher nur brand eins, und dort ist Social Business zwar Teil des Portfolios, aber nicht das alles dominierende Thema. Dass Nachhaltigkeit in den nächsten Jahren eines der großen Thema sein wird, steht für Friemel außer Frage.
Enorm will nicht nur aktive Social Entrepreneurs erreichen, sondern das andere Wirtschaften auch für sozial engagierte Leute öffnen, "die nicht im Business zuhause sind". In weiten Teilen der Gesellschaft ist Social Business, wie auch Corporate Social Responsibility oder Social Entrepreneurship, nicht verbreitet, aber Friemel glaubt, dass das Thema viele bewege, "die wissen nur nicht, wie das heißt".
Und die leidige Anzeigen-Frage? Tja. Jahrelang kamen die Verlagsleute in die Redaktionen und nannten ihnen eine Zielgruppe mit Anzeigenumfeld oder einen genialen Vertriebsweg, den sie aufgetan zu haben glaubten. Dann mussten die Journalisten Hefte dafür machen. Und nun "gibt es erstmals seit langer Zeit wieder ein Magazin mit gesellschaftspolitischem Auftrag", sagt Friemel. Er plane "das richtige Magazin zur richtigen Zeit", habe ihm ein Hamburger Verlagsmanager zugeflüstert. Ein aufrichtiges Kompliment sei das gewesen, in dem Wissen ausgesprochen, dass die Glaubwürdigkeit von enorm auf der sozialen Unternehmenskonstruktion beruht und das Magazin von einem konventionellen Verlag nicht einfach imitiert werden kann wie eines über Landsehnsucht.
Es haben ja in letzter Zeit sogar postmaterielle Kulturkreative angefangen, Wirtschaftsteile der Zeitungen zu lesen, die das jahrzehntelang vermieden hatten. Die Frage ist nur, ob sie es aus Neugier und Lust auf Veränderung tun. Oder aus Angst.
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