So schmal, wie ein VW-Käfer lang ist

Das schmalste Haus Berlins, das in der Rungestraße in Mitte steht, ist nur 3,50 Meter breit. Seit der Wende ist es unbewohnt und gammelt vor sich hin. Erst richteten sich Kinder eine Räuberhöhle ein, dann wurde es verrammelt. Jetzt droht der Abriss

von JAN BERNDORFF

Ganz Berlin schaut auf den Potsdamer Platz: topmodern und gigantisch. Aber nicht nur in der Höhe wird geklotzt. Wirkliche Rekorde besitzt die Stadt auch im Gegenteil. In der Rungestraße 10 in Mitte steht das schmalste Haus Berlins. 3,50 Meter – etwas schmaler, als ein VW Käfer lang ist, das ist sonst unerreicht in der Hauptstadt.

Das Vorderhaus besteht hauptsächlich aus einer Toreinfahrt. Darüber hinaus finden sich an der Fassade zwei Fenster im ersten und einzigen Stock des Hauses. Zwar wird das Gebäude hinter seiner Straßenfront zum Innenhof hin etwas breiter. Dennoch führt das statistische Landesamt den Bau als offiziellen Rekord. Seit dem Fall der Mauer steht das Haus leer. Jetzt droht der Abbruch.

Rund 15 Meter dagegen ist das schmale Haus lang. Der Aufgang zum Obergeschoss, eine extrem schmale Treppe, ist hinter einer Tür in der rechten Seitenwand der Einfahrt verborgen. Im ersten Stock liegen vier kleine Kammern, in denen es freilich auch eng zugeht: die kleinste ist nur anderthalb Meter breit.

„Bis zum Fall der Mauer hat ein Malerbetrieb die Räume genutzt,“ sagt Waika Reusche, die seit 12 Jahren im Hinterhaus der Nummer 10 wohnt. „Danach baute eine Kinderbande sich eine Räuberhöhle darin, bis 1993 die Wohnungsbaugesellschaft Mitte das Haus fest verrammelt hat.“

1994 ging der zu DDR-Zeiten zwangsenteignete schmale Besitz wieder zurück an den früheren Eigentümer Hans-Otto Weigel, der im Taunus wohnt. Sein Vater, der damals Geschäftsführer einer Schuhfirma war, hatte das Haus 1925 gekauft und bis 1948 an einen Handwerksbetrieb vermietet.

Doch heute findet Weigel keine Verwendung mehr für sein zurückgewonnenes Eigentum: „Kein Mensch hat Interesse, in diesen alten Schuppen zu ziehen. Der hat ja nicht mal eine Heizung. Sobald ich das Geld dafür übrig habe, lasse ich das Haus abreißen“, sagt er.

Wenn er noch viel länger wartet, wird das in der Zwischenzeit die Natur erledigen: Die Dachrinnen verotten, der Putz an der Front bröckelt, einzelne Ziegel brechen heraus, in der Einfahrt hängen Spinnweben. Nur den alten Stall nutzen die Bewohner des Hinterhauses als Lagerraum.

„Bei dem ist das Dach kaputt, und es regnet rein. Das Ganze zerfällt vor unseren Augen“, stellt Waika Reusche fest. Die 35-Jährige findet das sehr schade. „Man sollte das Haus unter Denkmalschutz stellen. Von der Hofseite sieht man, dass es eigentlich ein schöner alter Klinkerbau ist. Es könnte doch vielleicht wieder ein kleiner Handwerksbetrieb einziehen.“

Das Baujahr des Hauses kann selbst der Besitzer nur grob schätzen: so um 1890. Genaueres ist auch von behördlicher Seite nicht zu erfahren. Fast alle Akten über die Häuser in Berlin-Mitte sind im zweiten Weltkrieg verbrannt. Geradezu uralt und kümmerlich wirkt das Haus in der Rungestraße 10, wenn man den Blick einige Meter weiter auf die Nummer 9 schweifen lässt. Dort steht seit vergangenem Jahr die futuristisch anmutende türkische Botschaft – streng bewacht von Polizisten. Das neue Berlin und das alte treten hier in Konkurrenz. Wie lange noch?