Smarter Gegenkandidat: Der Modernisierer
Hamburgs CDU nominiert intellektuellen Liberalen als Bürgermeisterkandidat: Der Arzt Dietrich Wersich fordert Olaf Scholz (SPD) heraus.
HAMBURG taz | Smart – das ist das häufigste Attribut, das in Hamburgs Politkreisen über Dietrich Wersich zu hören ist. Nett, gradlinig, intellektuell, kulturbeflissen sind ebenfalls gängige Charakterisierungen des 50-jährigen Christdemokraten; polemisch, beißerisch oder gar machtversessen hat ihn noch niemand genannt. Und doch will er in neun Monaten Erster Bürgermeister in Hamburg werden. Ein scheinbar hoffnungsloses Unterfangen gegen den übermächtig wirkenden SPD-Titelverteidiger Olaf Scholz.
Der CDU-Landesvorstand hat den Fraktionschef in der Bürgerschaft jetzt offiziell als Bürgermeister-Kandidaten nominiert, ein Parteitag im Herbst wird das mit großer Mehrheit absegnen.
Das war lange nicht selbstverständlich, denn Wersich und auch der zweite starke Mann in der Hamburger CDU, der 47-jährige Parteivorsitzende und Bundestagsabgeordnete Marcus Weinberg, verkörpern den Typus des liberalen, großstädtischen Christdemokraten, der mit Hacken-knallendem Rechtskonservatismus so rein gar nichts anfangen kann.
Weinberg lebt ohne Trauring mit Freundin und Sohn zusammen und steht bei Heimspielen des FC St. Pauli im Stadion am Millerntor, Wersich lebt mit seinem langjährigen Freund „unverheiratet und getrennt wohnend in fester Partnerschaft“, wie er es formuliert. So lange ist das noch gar nicht her, dass für solche Lebensformen in der Union kein Platz war.
Dietrich Wersich wurde 1964 in Hamburg geboren, ging dort zur Schule und hat dort auch studiert.
Beruf: Wersich ist Facharzt für Allgemeinmedizin.
Hobby: Von 1995 bis 2004 war er nebenbei Geschäftsführer des Altonaer Theaters, zeitweise auch der Hamburger Kammerspiele und des Harburger Theaters.
Politik: Er war Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft von 1997 bis 2004, 2004 bis 2008 war Wersich Staatsrat der Sozialbehörde, von 2008 bis 2011 Sozialsenator, seit 2011 ist er Fraktionsvorsitzender der CDU in Hamburg.
Die beiden Modernisierer haben es nach 2011 geschafft, den Rechtsschwenk des Kurzzeit-Bürgermeisters Christoph Ahlhaus weitgehend zu revidieren. Natürlich steht Wersich in Treue fest zur Wirtschaft im Allgemeinen und zum Hafen im Besonderen, aber eben auch für exzellente Wissenschaft, Gründergeist und Hightech.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf „für Frauen und Männer“, die Anerkennung der gesellschaftlichen Realität einer Zuwanderungsgesellschaft, das Ja zur direkten Demokratie sind politische Elemente, die selbst unter der christdemokratischen Bürgermeister-Ikone Ole von Beust nicht selbstverständlich waren. Und sogar eine heilige Kuh der CDU wollen der Bürgermeister-Kandidat und sein Parteichef schlachten: Autofahren vermeiden durch eine Stadtbahn und faire Bedingungen für Radfahrer.
Doch gänzlich ungetrübt ist Wersichs Perspektive nicht. Vor zwei Wochen zog er als Oppositionsführer in der Bürgerschaft in einer unseligen Debatte zur Inneren Sicherheit gleichermaßen über die Rote Flora, die Lampedusa-Flüchtlinge und rumänische Armutsflüchtlinge her.
Der eher konfuse Auftritt ließ erkennen, dass die CDU die Innere Sicherheit erneut zum Wahlkampfthema machen will – weil ihr geschwächter, aber noch immer existierender, rechter Flügel gnädig gestimmt werden muss, weil sie sich nicht von der SPD rechts überholen lassen will und schließlich, um der AfD nicht das Feld zu überlassen.
Also versucht Wersich es jetzt. Wenn er scheitert, hat er dennoch nichts verloren. Bei einem zweiten Anlauf in fünf Jahren wäre er erst 55 – und Scholz vielleicht nicht mehr übermächtig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch