Skandalreaktor Krümmel: An. Aus. An. Wieder Aus.
Schon beim Bau galt er als technisch überholt, seither gibt es im Schnitt einmal im Monat eine Panne im Akw Krümmel. Die 25jährige Geschichte eines Versagens.
HAMBURG taz | Selbst die CDU geht langsam auf Distanz. Die Wiederinbetriebnahme des Atomkraftwerks Krümmel sei "keine Meisterleistung", gab der energiepolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion in Kiel, Manfred Ritzek, zu Protokoll. "Es reicht", schimpfen auch AtomkraftgegnerInnen und fordern: "Vattenfall die Lizenz entziehen". Zwei Jahre lang stand der Skandalreaktor nach dem verheerenden Trafobrand 2007 still.
Am 19. Juni gab Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD) grünes Licht für seine Wiederinbetriebnahme. Man habe "mit größter Sorgfalt und umfassend die Beseitigung der Mängel überwacht" und dabei "strengste Maßstäbe" angelegt, begründete sie. Zweieinhalb Wochen und drei Störfälle später liegt der Reaktor bis auf Weiteres wieder still.
Das Atomkraftwerk Krümmel vor den Toren Hamburgs zählt zu den pannenanfälligsten im Land. Über 300 meldepflichtige Ereignisse verzeichneten die Behörden – im Schnitt jeden Monat eines. In der Statistik liegt Krümmel damit ganz vorne, in einer Liga mit Uraltreaktoren wie Biblis und Brunsbüttel. Experten verwundert das nicht: Krümmel, obwohl erst Ende 1983 ans Netz gegangen, gehört zur AKW-Baulinie "69", dem ältesten Reaktortyp in Deutschland.
Es galt schon bei seiner Inbetriebnahme als technisch überholt. Zugleich ist Krümmel mit 1.400 Megawatt der größte Siedewasserreaktor der Welt. Von einem "getunten Schrottreaktor" spricht Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital.
Schon beim Bau des Kraftwerks regiert der Pfusch. Der Reaktordruckbehälter hat zu dünne Wände, Teile, die nicht richtig passen, biegen die Ingenieure mit hydraulischen Pressen zurecht.
Das AKW Krümmel, das haben die vergangenen 25 Jahre gezeigt, funktioniert alles andere als einwandfrei. Pumpen jeder Art fallen immer wieder aus. Sicherheitstechnisch wichtige Ventile schließen oder öffnen nicht. Flansche reißen ab. Schieber und Klappen an wichtigen Not-, Kühl- und Druckentlastungssystemen blockieren oder versagen. Notstromdiesel starten nicht.
Es gibt Lecks, verbogene Leitungen, falsche Verkabelungen, jede Menge Störungen in der Elektrik und den Steuersystemen. Messinstrumente, Gleich- und Wechselrichter sowie die Dieselgeneratoren der Notstromversorgung fallen reihenweise immer wieder aus. Befestigungsschrauben reißen ab, Muttern sind lose. Mehrfach fällt die Eigenstromversorgung des Reaktors aus: der gefürchtete Notstromfall.
Ende 1986, ein halbes Jahr nach Tschernobyl, registrieren die Reaktorfahrer eine "Veränderung des thermohydraulisch-nuklearen Stabilitätsverhaltens des Reaktorkerns". 1987 kommt es in dem AKW zu mehreren Knallgasexplosionen, Sicherheits- und Entlastungsventile werden beschädigt. 1991 leckt der Nebenkühlkreislauf - Lochfraß an den Rohren.
Im Mai 1985 entdecken Kontrolleure die ersten Risse an Schweißnähten, Rohren und Behältern. Es werden nicht die einzigen bleiben. 1993 zählen die Prüfer insgesamt 72 Risse im Speisewassersystem und anderen kritischen Anlagenteilen, die - besonders gefährlich - während des Betriebes gewachsen sind. Das AKW bleibt über ein Jahr abgeschaltet.
Mit Rissen hat damals auch ein anderer Pannenreaktor zu kämpfen: das AKW Würgassen am Oberlauf der Weser, konzeptionell der ältere Bruder von Krümmel, aber nur halb so groß. Würgassen habe man deswegen als "Reaktorschrott" eingestuft, sagt Smital: "Es ging niemals mehr in Betrieb." Das AKW Krümmel dagegen wird aufwendig repariert. 1998 tauchen erneut Risse im Speisewassersystem auf.
Seit den 1990er-Jahren macht Krümmel auch als Krebsreaktor von sich reden. Rings um das Kraftwerk erkranken immer mehr Kinder an Leukämie. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine stärkere Häufung. Diese Krebsart wird besonders leicht durch radioaktive Strahlung hervorgerufen. Bürgerinitiativen vermuten inzwischen einen Unfall im benachbarten Kernforschungszentrum GKSS in Geesthacht als Hauptursache.
Entwarnung für Krümmel bedeutet das aber nicht. Denn auch für die Umgebung aller anderen Atomkraftwerke wies eine Studie des Mainzer Kinderkrebsregisters deutlich erhöhte Krebsraten bei kleinen Kindern nach. Der Leiter des Krebsregisters räumte inzwischen ein, die tatsächliche Strahlenbelastung rings um Atomkraftwerke könne auch erheblich höher sein als offiziell angenommen.
Dass in Krümmel längst nicht alles zum Besten steht, hat der verheerende Trafobrand am 28. Juni 2007 gezeigt. Nicht in erster Linie wegen der schwarzen Rauchschwaden. Sondern wegen der zahlreichen Mängel, die sich in Zusammenhang mit dem Brand offenbarten - oder erst durch die Zwangspause danach. Bei normalen Revisionen, schildert der Reaktorsicherheitsexperte Christian Küppers vom Öko-Institut das Problem, könne man schon aus Zeitgründen längst nicht alles prüfen. "Wenn man länger Zeit hat, findet man plötzlich alles Mögliche."
Zum Beispiel in Krümmel: viele neue Risse an sicherheitstechnisch wichtigen Armaturen. Die komplizierte Reparatur dauert Monate. Vattenfall versichert anschließend, "dass das Kernkraftwerk Krümmel sicherheitstechnisch auf dem neuesten Stand ist". An diese Bedingung hatte einst das Bundesverfassungsgericht den Betrieb von Atomanlagen geknüpft.
Sozialministerin Trauernicht, die sich auf Initiative der Antiatominitiative ".ausgestrahlt" mit Tausenden von Protestschreiben gegen die Wiederinbetriebnahme konfrontiert sah, schrieb dazu lediglich, dass die "Armaturensanierung dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entspricht". Eine Aussage über den Reaktor als Ganzes traf sie wohlweislich nicht.
Schließlich ist das AKW Krümmel nach wie vor nicht gegen Flugzeugabsturz geschützt. Und allen Reparaturen zum Trotz treten immer wieder dieselben Fehler auf. Beim Trafobrand 2007 etwa war unter anderem eine der Speisewasserpumpen ausgefallen, die Kühlwasser in den Reaktor drückt, die Ursache: defekte Elektronik. Vier Tage nach Wiederinbetriebnahme muss Vattenfall bereits wieder einen Elektronikdefekt im Reaktorschutzsystem melden.
Am Mittwoch, Krümmel läuft da gerade einmal eine Woche unter Volllast, decken Anwohner dann die erste Notabschaltung auf. Ein Mitarbeiter hatte bei Wartungsarbeiten vergessen, ein Ventil wieder zurückzustellen; die Folge waren der Ausfall eines Trafos, der das AKW mit Strom versorgen sollte - und Probleme bei der Steuerung der Speisewasserpumpen.
Am Freitag kündigte Vattenfall an, der Reaktor werde ab dem Wochenende wieder mit voller Leistung Strom produzieren. Am Samstagmittag um 12.02 Uhr kommt es - genau wie 2007 - zu einem Kurzschluss in einem der beiden Netztranformatoren. Es folgt eine Reaktorschnellabschaltung: die Notbremse.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los