Skandal um Transplantationen: Wer soll leben? Wer sterben?
Die Frage, wer ein Spender-Organ erhält und wer nicht, kann nur der Gesetzgeber beantworten. Doch das Parlament weicht aus.
BERLIN taz | Jetzt also hat auch noch das Oberlandesgericht Braunschweig bestätigt, wer im Organskandal der Bösewicht ist: Professor O., einst verantwortlicher Arzt des Transplantationszentrums der Uniklinik Göttingen. Bis zur Anklage – spätestens im Juli muss die Staatsanwaltschaft diese vorlegen – bleibt der Mann in Untersuchungshaft: versuchter Totschlag in neun Fällen, Fluchtgefahr. Muss man mehr sagen?
Man muss. Beispielsweise, dass der Wunsch nach Ahndung ärztlichen Fehlverhaltens ja legitim ist: Über Jahre soll der Mann Laborwerte seiner leberkranken Patienten gefälscht sowie Dialysen vorgetäuscht haben, die in Wirklichkeit nicht stattfanden. Damit erschienen seine Patienten kränker, als sie waren, und rückten auf der Warteliste für ein Spenderorgan nach oben. Eine Bevorzugung, die, so die Argumentation der Staatsanwaltschaft, „aufgrund des bekannten Organmangels zwangsläufig die Behandlung anderer lebensbedrohlich erkrankter und auf eine Leberspende wartender Patienten womöglich bis zu deren Tod verzögert“ habe.
Sogar Alkoholiker soll O. auf die Warteliste gesetzt haben, obwohl diese noch keine sechs Monate trocken waren – wogegen freilich weder verfassungsrechtlich (alle Menschen haben die gleiche Freiheit, sich zu schaden) noch medizinisch (eine kaputte Leber ist zu behandeln) etwas spricht, wohl aber die pädagogisch-empörten Richtlinien der Bundesärztekammer zur Organverteilung (die neue Leber versäuft der doch auch!).
Und hier beginnt das Problem: Verurteilungen einzelner Ärzte, so sie überhaupt erfolgen, werden die Krise der Transplantationsmedizin nicht lösen. Denn diese Krise ist strukturell: Bei der Organvergabe geht es nicht um den Umgang mit irgendeiner Ressourcenknappheit. Die Frage, wer ein Organ erhält und wer nicht, ist die brutale Entscheidung darüber: wer soll leben, wer sterben? Sie beantworten kann eine einzige Institution, die hierzu qua Verfassung legitimiert ist: der Gesetzgeber.
Eine Gerechtigkeitsfrage
Doch das Parlament weicht aus. Es hat die Verteilung von Lebenschancen – eine Gerechtigkeitsfrage – zu einer medizinischen Frage umetikettiert. Und sodann der Bundesärztekammer überantwortet. Einer privaten Organisation, deren teils willkürlich anmutende Vergaberichtlinien, umgesetzt von Eurotransplant, einer privatrechtlichen Stiftung mit Sitz in den Niederlanden, vor Gericht kaum anfechtbar sind.
Zwischen den Kriterien Dringlichkeit und Erfolgsaussicht etwa, nach denen die Organe verteilt werden sollen, besteht ein unlösbarer Konflikt: Wer unmittelbar zu sterben droht, ist unbestritten hoch dringlich. Wie erfolgreich die Transplantation bei einem derart geschwächten Patienten jedoch sein wird, ist eine andere Frage. So genau aber will man das in Deutschland lieber gar nicht wissen: Ein wissenschaftliches Transplantationsregister, das solche Daten analysieren würde, ist erst jetzt, 16 Jahre nach Einführung des Transplantationsgesetzes, in Planung.
Dazu kommt: Das deutsche Gesundheitssystem belohnt nicht den klugen Einsatz von Ressourcen. Es belohnt Menge und Masse. Der Wert eines Chirurgen etwa bemisst sich nicht daran, ob seine Patienten nach zehn Jahren noch leben oder wie vielen von ihnen er eine Transplantation erspart hat, die das Überleben ohnehin nur um wenige Tage verlängern konnte. Sein Wert bemisst sich allein an dem ökonomischen Benefit und dem Prestige, das er seiner Klinik bringt.
Das ist nicht bloß die Grundlage für Fehlanreize – das ist fatal: Um zu überleben, werden weiterhin viele Akteure Schlupflöcher im System nutzen. Man muss dazu gar nicht unbedingt kriminell Labordaten manipulieren. Bei entsprechender Begründung ist es in Deutschland ganz legal, auch qualitativ minderwertige Organe zu verpflanzen oder Patienten zu akzeptieren, die für eine Transplantation im Grunde zu schwach sind. Entsprechend miserabel ist übrigens die Qualität deutscher Transplantationsergebnisse im internationalen Vergleich.
Die wenigen, die sich trauen, dies zu kritisieren, haben, als Nestbeschmutzer beschimpft, glänzende Aussichten auf eine Karriere in der Sackgasse: die Szene der Transplantationsmediziner ist winzig, gegenseitige Abhängigkeit immens.
Wer diese Zustände ändern will, der muss – neben Strafverfahren, so berechtigt sie im Einzelfall sind – vor allem eine gesellschaftliche Debatte anschieben zu der Frage, was uns die Solidarität mit Kranken wert ist.
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