: Sinn sucht jeder für sich selbst
Konfusion ist einfach nur ein guter Song: Placebo sind das Glamrock-Wunder der Stunde, weil ihr Sänger Brian Molko nicht nur den Kajalstift dick aufträgt. Doch in Berlin blieb der Rock im Schrank
von GERRIT BARTELS
Im Sommer stellte der britische New Musical Express die drei Musiker von Placebo vor: Brian Molko, Gesang, Gitarren, 27, Amerikaner, bisexuell, spricht wie Jack Nicholson. Stefan Olsdal, 26, Bass, Schwede, verschlossener Charakter, schwul. Steve Hewitt, 29, geldbesessen, Nordengländer, hetero, Vater eines Kindes.
Als wäre es selbstverständlicher Bestandteil eines jeden Personalausweises, flocht das wöchentlich erscheinende Musikblatt die sexuellen Neigungen der Placebo-Musiker in die Steckbriefe mit ein. Auch sonst ging der NME nicht besonders freundlich mit der Band um und demonstrierte, wie wenig er von Placebo hält – Molkos Spiel mit ambivalenten sexuellen Orientierungen sei zu kalkuliert, zu pseudo, zu sehr angelehnt an Glam- oder Düstermodelle wie Bowie oder Marilyn Manson, zu cartoonhaft, die Musik überbewertet und prätentiös.
Dass Molko gern Kajal- und Lippenstift dick aufträgt, Schönheitsflecken spazieren trägt, in langen Röcken auf der Bühne steht und damit vor allem sexuell noch orientierungslose Teens und Twens anspricht, mag das Image von Placebo befördert haben. Die offensichtliche Missgunst, die ihnen auch in Teilen der britischen Musikpresse entgegenschlägt, scheint ihnen aber nichts anhaben zu können. Sie haben Erfolg. Jede neue Single und auch jedes der mittlerweile drei Alben der Band landet ein paar Plätze weiter vorn in den Charts und verkauft sich dementsprechend.
Das gilt auch für Deutschland und für das neue Album, „Black Market Music“, in dessen Gefolge die Berliner Columbiahalle seit Wochen ausverkauft ist. Placebo sind die Band der Stunde, die Band, die man gesehen haben muss. Und auch hier sind es vor allem Alternative-Rock-Fans und jüngere Viva-Zuschauer, die Placebo an diesem Sonntagabend sehen wollen, aber auch nicht wenige Leute, die sonst in der Gothic-Szene zu Hause sind: Schwarzkittel mit ausrasierten Schläfen, Leute, die früher Zillo gelesen haben, jetzt bei Uncle Sallys gelandet sind und gern auf Depeche-Mode-Partys gehen.
Denen macht es an diesem Abend nichts aus, dass Molko nun mit kürzeren Haaren auftritt – Nick Cave lässt grüßen – und seinen Rock diesmal im Schrank gelassen hat: Ein schwarzes, zerissenes T-Shirt und eine schwarze Hose müssen reichen. Klein ist er, besonders im Vergleich zu seinem doch recht großen und einen Irokesenschnitt tragenden Kompagnon am Bass.
Schlicht wirkt das Auftreten der Band – Placebo scheinen in Sachen Style abspecken und nur noch die Musik für sich sprechen lassen zu wollen. Da wird dann auch von Beginn an nicht lange gefackelt, da geht es gleich voll zur Sache, eine halbe, dreiviertel Stunde lang nur nach vorn: Molko und Orsdal springen im Kreis, Molko singt und spielt Gitarre, Orsdal hüpft und spielt seinen Bass – und das Publikum im vorderen Teil hüpft ohne Unterlass mit, sodass die Ordner Schwerstarbeit zu verrichten haben und immer wieder jemanden vorne aus dem Gewühl herausziehen müssen: ein grenzenloser Spaß, der an Punkrock-Konzerte erinnert, dabei aber auch den Verdacht aufkommen lässt, es sei eigentlich immer der gleiche Song, den Placebo da spielen und einfach nur ein wenig variieren.
Ist es natürlich nicht. Tatsächlich sind es gerade die Songs, die ja den Poprock-Appeal von Placebo ausmachen: Sie sind einfach gestrickt, mit ein, zwei Akkorden und ohne große Rhythmuswechsel wird da kein großes Aufheben gemacht, und über allem liegt Molkos gepresst-nölige Stimme. Dazu eine sehnsüchtige Melodie, ein bisschen Achtzigerjahre-New-Wave-Melancholie, ein Pianotönchen – und fertig ist der Sound, auf den sich ein großes Publikum einigen kann. Und nicht nur dies: Ebenfalls erklärte Fans der Band sind David Bowie, bei dessen 50. Geburtstag Placebo spielten, Todd Haynes, in dessen Film „Velvet Goldmine“ sie als New York Dolls auftraten, oder auch Courtney Love und Marilyn Manson.
Placebo können aber auch anders. Dann breaken sie das Konzert, spielen das ruhige und wunderschöne „Passive Aggressive“ und dann zwei Balladen ein, die beweisen, dass Molko tatsächlich singen kann: „My sweet prince, you are the one“, schmachtet er und wimmert im nächsten Song „Please don’t die, don’t die, don’t die“, und alle schmachten und wimmern mit.
Die mitunter durchaus sinnfreien, rätselhaften und und quatschigen Lyrics der Band interpretiert hier jeder für sich selbst – wichtig sind sie ohnehin nur, wenn es ruhiger wird im Saal. Molko aber singt sie so, als hätte er die Weisheit der Welt für sich gepachtet.
In weiteren Verlauf des Konzerts strukturieren Placebo ihr Programm dramaturgisch geschickt: Hit folgt auf Hit, dann ein ruhiger Song, dann eine Hymne (obwohl natürlich jeder der Placebo-Songs etwas Hymnisch-Pathetisches hat). Und als Molko dann „Come back to me a while, change your taste in men“ singt, kann man sich einmal mehr überlegen, ob Konfusion nun Sex oder Pop oder einfach nur ein guter Song ist, zu dem man einen guten Gedanken hat oder einfach nur tanzen kann: Groß sind Placebo allemal.
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