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■ NormalzeitSignifikanten einer vaterlosen Gesellschaft

Kürzlich besuchte eine Verkehrs-Kommission aus Neurosibirsk die Stadt an der Normalzeit. Sie wunderten sich über die vielen Poller – Verkehrsabweiser. Es gab hier einmal einen FDP-Abgeordneten, der sich dem Kampf gegen die „Verpollerung der Innenstadt“ widmete. Er wußte, welche Bezirks-Tiefbauämter die meisten Poller aufgestellt hatten und welche die wenigsten. Und was das alles kostete. Das war vor der Wende im Westen.

Danach fingen auch die Tiefbauämter im Osten an, wie verrückt alles abzupollern. Im Osten hatte es früher so gut wie gar keine Poller gegeben. Dort vertraute man auf die Straßenverkehrsordnung und die Vopos, die jeden erwischten, der auf dem Bürgersteig parkte. Nun sollten die „stummen Polizisten“ – aus Gußeisen, Beton oder Stahl – sie ersetzen.

In Kreuzberg verwendete man vornehmlich in Ungarn hergestellte „Wellmann-Poller“, die im dortigen Bezirksamt „Kreuzberger Penisse“ genannt werden. Nach den 1.Mai-Krawallen im Problembezirk kaufte man „ankerverstärkte“. Ähnliches galt für die Steinpoller vor den amerikanischen Militäreinrichtungen in Zehlendorf: Damit sollten palästinensische Selbstmordkommandos auf LKWs mit Sprengstoff schon im Vorfeld aufgehalten werden. Nach der Wende wurden – zur Sicherheit – auch die Synagogen in Mitte und Prenzlauer Berg derart abgepollert. Zusätzlich stellte man dort aber auch echte, sprechende Polizisten ab.

Ein Architekt, Natubs, der früher den edlen „Kudamm-Poller“ entworfen hatte, beteiligte sich am „Ersten Entpollerungs-Programm“ – in Amsterdam, von wo aus einst die Poller die Verkehrswelt überschwemmt hatten. Grenzen setzte ihnen damals nur der „Eiserne Vorhang“ und speziell die „Berliner Mauer“ (von Verkehrsplanern scherzhaft „der längste Poller der Welt“ genannt).

Unterdes war aus der westlichen Poller-Produktion und -Distribution ein Industriezweig geworden – mit eigenem expandierenden „hermeneutischen Apparat“. In der Single-Hochburg Westberlin lag es z.B. nahe, die Poller als Signifikanten einer „vaterlosen Gesellschaft“ zu dechiffrieren. Ihre phantasievolle Inbesitznahme durch die Habermasschen Alltagsexperten, von einer New Yorker Urbanistin „Nutzungsspuren“ genannt, wurde von den Stadtplanern sogleich multimedial aufbereitet. Die Radikalen unter ihnen sprachen von „Proletkult“, wenn sie ein tag oder graffito auf einem Poller identifizierten.

Dergestalt fand insbesondere der rotweiß gestreifte Verkehrsabweiser aus Metall schnell auch einen Platz auf den Bühnen. Dostojewski, Goethe, Dario Fo, Botho Strauß: in jedem Stück gab es mindestens ein Dialog mit einem Poller. Es kam auch zum hilflosen Versuch, dem entgegenzuwirken: Man sprach plötzlich von „Stadtmöblierung“ – und meinte damit alle Gegenstände des öffentlichen Raumes: Bänke, Waschbeton-Blumenkübel, Abfallkörbe, Schaltkästen, Fahrradständer etc. – bis hin zu den „Drop Sculptures“ genannten Plastiken im öffentlichen Raum. Die Poller waren Teil der Straßenmöblierung.

So flugs wie diese flugs industrialisiert wurden, drehte sich die Entwicklung jedoch wieder: All diese Stadtmöbel-Elemente wurden in Pollerketten integriert: Man stellte sie so auf, daß man damit einige „stumme Polizisten“ ersetzte. Bleiben wir bei den echten Pollern! Die Neurosibirsker fanden heraus, daß es genau 6 Millionen Poller in Berlin gibt. Die Siegessäule nicht mitgerechnet. Diese Zahl sollte uns zu denken geben, meinten sie. Helmut Höge

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