Sieg gegen Mazedonien bei Handball-EM: Rock me Amadeus
Ein Exzentriker und ein Teamplayer - die deutschen EM-Torhüter Heinevetter und Lichtlein sind grundverschieden, aber ergänzen sich prima.
NIS taz | Carsten Lichtlein hatte sein Ritual wie immer abgespult. Der Torwart der deutschen Handball-Nationalmannschaft hatte 45 Minuten lang Musik gehört, Pop von Abba und "Eine Kleine Nachtmusik" von Wolfgang Amadeus Mozart, die berühmte Serenade Nr. 13 in G-Dur. Und dann war es hinausgegangen in die Hölle von Nis. Sie waren mit einem Pfeifkonzert empfangen worden, die mazedonischen Fans schmetterten ihre Gesänge so laut, als starte ein Düsenjet neben dem Feld, aber Carsten Lichtlein ließ sich nicht irritieren, auch nicht durch die Feuerzeuge, die ihm um die Ohren flogen, er hielt wie ein Teufel.
Es waren viele Geschichten erzählt worden bei diesem 24:23-Sieg gegen Mazedonien, der das Zeug zu einem Mythos hat und der dem DHB-Team nach der Auftaktpleite gegen Tschechien den Weg in die Hauptrunde bei der Europameisterschaft in Serbien offenhält: Ein Sieg heute im letzten Gruppenspiel gegen den WM-Vierten Schweden, und sogar die Olympiateilnahme wäre wieder möglich. Eine Geschichte war, dass Kapitän Pascal Hens (HSV) nur auf der Bank saß, ihn ersetzte Lars Kaufmann (SG Flensburg), der Mann mit dem Raketenwurf. Auch die zwei Tore am Ende durch den wuchtigen Kreisläufer Patrick Wiencek waren spektakulär, da der Gummersbacher erst in der hitzigen Schlussphase in die Schlacht geworfen worden war.
Doch auch mit der Maßnahme, den Lemgoer Lichtlein im Tor beginnen zu lassen, hatte Bundestrainer Martin Heuberger großen Mut gezeigt, gilt Silvio Heinevetter (Füchse Berlin) vielen Beobachtern doch als Nummer eins. In solchen Kategorien denkt Heuberger nicht. "Bei uns gibt es keine Zweiklassengesellschaft. Wir brauchen den ganzen Kader", kommentierte er seine Entscheidung trocken.
Der Trainer hatte damit ja auch alles richtig gemacht. Als Heinevetter für Lichtlein kam, sieben Minuten vor Schluss, hielt der Berliner Keeper sofort einen Strafwurf gegen Kiril Lazarov, den Rückraumstar von Atlético Madrid. Die Mazedonier kamen mit seinem unorthodoxen Torwartstil nicht zurecht, scheiterten plötzlich bei Tempogegenstößen. "Silvio hat die Big Points für uns gemacht", konstatierte Heuberger. "So wie das Torwartspiel lief, war es perfekt", sagte Spielmacher Michael Haaß.
Verschieden wie Tag und Nacht
Dabei sind die beiden deutschen Keeper verschieden wie Tag und Nacht. Heinevetter trägt sein Herz auf der Zunge, und er gibt sich keine Mühe, seinen Ärger darüber zu verbergen, wenn er auf der Bank Platz nehmen muss. Bei der Vorstellung des Teams hatte er regungslos dagestanden, wütend, bösen Blickes. Und nach dem Sieg, zu dem er ja entscheidend beigetragen hatte, war Heinevetter wortlos durch die Mixed Zone marschiert.
Heinevetter sei halt ein Individualist, sagt Andreas Thiel, der Torwarttrainer. "Es gibt Torhüter, die ein gewisses Maß an Egozentrik brauchen, um sich zur besten Leistung auf dem Feld zu treiben." Thiel ist ein Fan von Heinevetters Art zu halten. "Er macht verrückte Sachen, ist dadurch unberechenbar. Außerdem mag ich die Typen, die angreifen, schreien, aggressiv sind. Ein Torhüter muss präsent sein."
Lichtlein hingegen stellt eine Art Prototyp des Mannschaftsspielers dar. Oft sah er in den letzten Jahren zu, weil sich Heubergers Vorgänger Heiner Brand immer für zwei andere Keeper entschied. Lichtlein war tief enttäuscht, aber nahm es sportlich. Dass nun beide Keeper ihre EM-Einsätze kriegen, findet er normal. "Ein ganzes Turnier auf hohem Niveau zu halten, das geht nicht, wir sind ja keine Maschinen." Die Torleute hätten einen vernünftigen Modus der Zusammenarbeit gefunden. Auch Heinevetter sagt: "Ich versuche, ihm so gut wie möglich zu helfen."
So scheint es, als ergänze sich dieses gegensätzliche Duo perfekt; der Exzentriker Heinevetter, der Bewegungen macht, die in keinen Lehrbuch stehen, und der introvertierte Lichtlein, der Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt; der laute Heinevetter, der den Torraum rockt, und der leise Lichtlein, der Mann für die "Kleine Nachtmusik"
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus