: Sie werden nicht alleine sterben
Unterwegs in Kenia mit der Aids-Beraterin Mary Makokha. Die Provinz, die sie betreut, ist von der Krankheit besonders stark betroffen
aus Butula PETER BÖHM
Viel hatte der Onkel eigentlich gar nicht gesagt. In seiner Würdigung lobte er den verstorbenen Neffen als einen „sehr fleißigen Menschen“ und fuhr fort: „Obwohl er wusste, dass er sterben musste, baute er noch ein Haus für seine Witwe und seine Kinder.“ Unter den gut 100 Trauergästen hebt ein Murren an. Anfangs undeutlich, dann immer lauter. Zuerst spricht der Onkel etwas irritiert weiter, bricht jedoch kurz darauf seine Rede abrupt ab.
„Er wusste, dass er sterben musste“, verstanden die Trauergäste als Anspielung auf Aids, „die Krankheit, die keine Heilung kennt, außer der Hacke, die das Grab aushebt.“ Und das dem Verstorbenen nachzusagen, gilt als schwere Beleidigung. „Dafür wurden schon Leute gesteinigt“, sagt einer der Trauergäste später. Und der Onkel selbst wird später sagen, so habe er es gar nicht gemeint. Wer könne schon wissen, ob sein Neffe wirklich Aids hatte. Ein paar Wochen später wurde die Witwe gemäß der lokalen Tradition von einem Verwandten des Verstorbenen geerbt. Und dennoch: Wer wissen wollte, woran der Mann gestorben war, konnte es auch wissen. Um sich von dem Toten zu verabschieden, defilieren die Gäste am offenen Sarg vorbei. Die Leiche ist völlig abgemagert, an Mund und Nase hat sie große Wunden. „Er hatte über drei Jahre die verschiedensten Krankheiten“, sagt Mary Makokha mit deutlichem Unverständnis. „Er war bei der Armee. Dort wird man gut gefüttert. Warum ist er dann so dürr?“
Hälfte der Erwachsenen infiziert
Unterwegs mit Mary Makokha (36), der selbst ernannten Aids-Beraterin von Butula, einem der Kreise mit einer der höchsten HIV- und Aids-Raten in Kenia. Butula mit seinen knapp 100.000 Einwohnern liegt im südlichen Teil der Provinz West, 25 Kilometer von der ugandischen Grenze entfernt. Die Menschen leben von der Subsistenzwirtschaft und vom Zuckerrohr. Viele Männer suchen sich Arbeit in den Städten. Die beiden Provinzen Nyanza und West, wo die Tradition des Witwenerbes verbreitet ist, gelten mit Infektionsraten von rund 30 Prozent als die am schlimmsten betroffenen Regionen Kenias. „Wie hoch genau die Ansteckungsrate in Butula ist, weiß keiner“, sagt Makokha. „Aber die Annahme, dass jeder zweite Erwachsene infiziert ist, dürfte nicht zu hoch gegriffen sein.“
Begräbnisse wie dieses sind für Makokha nichts neues. Sie wurde hier geboren und sagt: „Das Stigma, das hier mit Aids verbunden wird, ist unvorstellbar.“ Als sie vor drei Jahren acht Verwandte innerhalb eines Monats verlor, sagte sie sich: „Ich muss handeln.“ Sie ließ Mann und Kinder in Nairobi zurück und gründete in Butula eine Nichtregierungsorganisation, die über HIV und Aids aufklären will, damals noch „mit einem Büro unter eine großem Baum“. In der Hauptstadt schnorrte sie – und tut das noch immer – Aufklärungsplakate, -broschüren und Kondome und verteilt sie hier. Der Parlamentsabgeordnete von Butula zahlt inzwischen die Miete des Beratungsbüros, für ihre Arbeit bekommt Makokha jedoch nichts.
Auf so eine Frau wartet in einer ländlichen Gegend wie Butula natürlich niemand. Makokha wurde beschimpft, ihr Vater bekam Todesdrohungen. „Erst vor ein paar Wochen gab es ein kleines Handgemenge mit dem katholischen Priester“, sagt sie. „Es ist in unserer Kultur einfach nicht üblich, dass eine Frau öffentlich über Sex redet, noch dazu eine solch junge!“, sagt deshalb auch Gabriel Wazike. Er ist Vorsitzender des Kreisverbands der ehemaligen Einheitspartei Kanu und gleichzeitig Chef des Ältestenrats von Butula. „Am Anfang dachten die meisten“, gibt er zu, „die hat sie nicht mehr alle.“
Wazike ist einer von diesen afrikanischen Männern, die Sätze sagen wie: „Die jungen Leute heutzutage kennen unsere Kultur gar nicht mehr richtig.“ Und: „Im Fernsehen wird inzwischen so viel Schmutz gezeigt.“ Dass so jemand sich nun entschieden für die Aufklärung über die Seuche einsetzt, zeigt schon, wie enorm Aids die Koordinaten afrikanischer Gesellschaften verändert hat und noch verändern wird.
Wer Aids hat, wird ausgeschlossen
Wazike hat Mary Makokha zu einer Sitzung des Ältestenrats eingeladen. Die würdigen alten Männer fordern sie nun auf, auch in ihre Dörfer zu kommen und versprechen ihr dort jede erdenkliche Unterstützung. Wie sie dort hinkommen soll, weiß sie allerdings nicht, denn von der Regierung bekommt sie keinerlei Unterstützung. „Von dort kommt null, rein gar nichts“, muss auch Wazike einräumen.
Für viele wird die Aufklärerin allerdings viel zu spät kommen. Mit seinen 24 Jahren sieht Phillip Ochieng aus wie ein Greis. Tag um Tag sitzt er bis auf die Knochen abgemagert und sich wegen eines Ausschlags an Händen und Füßen ständig kratzend allein auf der Strohmatte vor seiner Hütte. Zum Essen erbettelt er manchmal etwas auf dem kleinen Markt, ein paar Meter über die Straße. Dort wird er aber wie ein Aussätziger behandelt und nach kurzer Zeit wieder weggejagt. Er ist seit drei Jahren krank, und es hat sich herumgesprochen, dass es wahrscheinlich Aids ist.
Eine seiner Schwägerinnen begrüßt alle Besucher per Handschlag. Außer Phillip, der in einem Haus etwas abseits wohnt. Seine Familie kümmert sich nicht um ihn. „Weil seine Krankheit sich schon so lange hinzieht“, sagte eine der Frauen, und natürlich ahnen auch sie, was los ist. Phillip selbst streitet heftig ab, dass er HIV-positiv ist. „Vor kurzem habe ich zum ersten Mal versucht, ihn darauf vorzubereiten“, berichtet Makokha. „Sie hätten sein schockiertes Gesicht sehen müssen.“ Das sei doch gar nicht möglich, habe er gesagt. Er bestand darauf, dass ihn jemand verhext haben muss, weil er sich früher öfter geprügelt hat. Nach ein paar Minuten kommt auch Phillips Bruder über den Rasen zwischen den strohgedeckten Hütten geschlichen. Seine Beine sind dick angeschwollen. „Er behauptet, es liege an dem schlechten Essen, das er im Gefängnis bekommen hat“, sagt die Aids-Beraterin. „Dass er mir lieber sagt, er sei ein Krimineller, als mit Aids in Verbindung gebracht zu werden, zeigt doch wirklich, mit welchem Stigma diese Krankheit hier belegt ist.“ Zwei Monate später sind beide gestorben.
Wenn man ein bisschen nachbohrt, können einem die Dörfler in Butula von jenen Leuten erzählen, die sich verstecken, wenn sie erfahren, dass sie HIV-positiv sind. Bis zum bitteren Ende leben sie in den Zuckerrohrplantagen und kommen nur nachts nach Hause, um etwas zu Essen zu holen. Oder von dem in der Region weit verbreiteten Namen für Aids, übersetzt: „Ich werde nicht alleine sterben.“ Und davon, dass es Menschen gibt, die Listen mit Dutzenden von Namen erstellen – was in Butula schon wiederholt vorgekommen ist. Listen mit Namen von Personen, an die sie den Virus aus Verzweiflung und Hass weitergegeben haben, und die nach ihrem Tod veröffentlicht werden. „Es kommt häufig vor, dass jemand im Gespräch zugibt, dass er den Virus absichtlich verbreitet“, sagt Makokha. „Oft ist die Haltung ,Ich wurde ja auch nicht gefragt, als ich ihn bekam‘. Das bringt mich in eine echte Zwickmühle, weil ich unter Schweigepflicht stehe, aber gern auch handeln würde.“
Die Witwen verweigern sich
Ein bisschen Stolz ist Mary Makokha anzumerken, wenn sie „ihre eindeutige Lieblingsgruppe“ vorführt, zwanzig Witwen, die sich gegen anfänglich große Widerstände offen zu ihrer Krankheit bekennen. „Am Anfang war es sehr schwierig, über Aids in der Öffentlichkeit zu sprechen“, sagt Wilhelmina Mulaa, ihre Sprecherin. „Oft sind genau die, die uns kritisieren, diejenigen die die Krankheit absichtlich verbreiten.“ Die Frauen haben Gedichte und ein kleines Theaterstück geschrieben und zum Welt-Aids-Tag aufgeführt. Heute tanzen und lachen sie und singen „Mary hat wieder Sinn in unser Leben gebracht“, denn sie haben heute eine kleine Gedenkveranstaltung für einen der verstorbenen Männer organisiert und sammeln etwas Geld für die Witwe. Sie helfen sich gegenseitig, denn die meisten haben sich geweigert, sich nach dem Tod ihres Mannes erben zu lassen und damit auf Unterstützung verzichtet.
Die 29-jährige Roselyn Adiambo weigerte sich getreu dem Ziel der Gruppe, den Virus nicht zu verbreiten, zwei Jahre lang. Witwen sind bei den Marachi der Tradition gemäß „unrein“ und können nur durch Geschlechtsverkehr mit einem Verwandten ihres Mannes wieder „gereinigt“ werden. Wegen ihrer „Unreinheit“ hinderte Adhiambo ihre Familie, für ihre Kinder zu kochen, aufs zu Feld gehen, weil sie die Ernte verderben könnte, oder jemanden zu besuchen. Dann starb auch noch ihr Schwiegervater, und auch ihre Schwiegermutter unterlag von nun an diesen Tabus.
Adiambo beugte sich und heiratete einen von der Familie bestimmten, versehrten Kousin ihres Mannes, der sonst wohl keine Frau gefunden hätte. Während des Interviews kommt ihr Mann zufällig den Feldweg entlang. Adhiambo würdigt ihn keines Blicks. Unschlüssig, ob er näher kommen soll, wartet er an der Kreuzung und entschließt sich dann, doch lieber einen Bogen zu machen und humpelt auf seinen Krücken davon. „Nein, schützen tun wir uns nicht beim Sex“, sagt Adhiambo und ihre Augen funkeln dabei hasserfüllt. „Ich wollte ihn nicht heiraten!“
In einem Halbkreis sitzend erzählen die Witwen später, was sie durchgemacht haben. „Wenn die Eltern meines toten Mannes mich nach meinem Tod erben lassen wollen, ist mir das egal.“, sagt eine trotzig. Besonders traditionsbewusste Familien bezahlen manchmal einen Mann, um Geschlechtsverkehr noch an der Leiche auszuführen, damit sie begraben werden kann.
Männer mit Affären gelten mehr
Eine andere, Mitte 50, berichtet, dass sie nun endlich ihren Mann hinausgeschmissen hat, und bringt damit die ganze Gruppe zu einem nervösen und doch schadenfrohen Lachen. Sie hat ihn in einem anderen Haus untergebracht, nun könne er sie nicht mehr bedrohen. Die zweite Frau ihres Mannes war schon an Aids gestorben. „Er kam einfach in mein Haus, was sollte ich machen? Und wenn ich sagte: ,Du wirst mich auch anstecken‘, sagte er: ,Quatsch, ich habe doch nur Malaria‘. Sie können ihren Mann nicht kontrollieren“, fährt sie fort, die Umsitzenden pflichten ihr lebhaft bei. „Er wird sie verprügeln.“ Und eine andere sekundiert: „In unserer Kultur ist es doch so: Ein Mann gilt als Held, je mehr Affären er hat.“
Einer der Beschlüsse, die der Ältestenrat nach Makokhas Rede getroffen hat, ist, sollte eine Person an Aids gestorben sein, dies von der Verwaltung auf der Beerdigung öffentlich verkünden zu lassen. „Das hört sich ja gut an“, sagt Mary Makokha, „aber wie soll das gehen? Die meisten wollen ja gar keinen Test machen, und das nächste größere Krankenhaus, wo sie ihn machen könnten, ist 40 Kilometer entfernt.“ Gabriel Wazike ficht das nicht an. Er ist schon mit gutem Beispiel vorangeschritten. Auf einer Beerdigung sprach er ausgiebig über den Virus. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass der Verblichene weit über 80 und ganz sicher nicht an den Folgen von Aids gestorben war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen